Mit einem Nachwort von David Woodard
KONTAKT
zerstoerung(at)gmail(dot)com
http://www.zerstoerung.org/suedharzreise/
BITTE ZUERST LESEN
Dieses Buch wird unter der Creative Commons-Lizenz Namensnennung–Keine kommerzielle Nutzung–Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 veröffentlicht.
Sie dürfen:
Zu den folgenden Bedingungen:
Wobei gilt:
SPENDEN
Nicht möglich. Wer trotzdem Geld ausgeben möchte, könnte einfach das Buch kaufen. Es kostet 10 Euro und ist in Buchhandlungen (ISBN 978-3-941592-12-4), durch eine Mail an den Verlag (sukultur@satt.org) oder zum Beispiel bei Amazon erhältlich.
DIESE UND ANDERE VERSIONEN DES TEXTES
»Die Südharzreise« ist zuerst im März 2010 bei SuKuLTuR im Druck erschienen. Diese HTML-Version bietet den Haupttext und das Nachwort ohne Silbentrennungen und Seitenumbrüche und soll die Weiternutzung erleichtern. Nicht enthalten sind das Buchcover, die Streckenkarte, die Abbildungen und Bildunterschriften sowie das Personenregister und die Autorenangaben.
Das offizielle E-Book (PDF) und die HTML-Version stehen seit dem 29. April 2010 als kostenlose Downloads zur Verfügung. Andere Formate (EPUB, ...) folgen.
Die 31 Bilder von Andreas Vogel, die im Buch abgebildet sind, finden sich auch bei Flickr und in den Wikimedia Commons.
IMPRESSUM DER PRINT-VARIANTE
Die Südharzreise
ein SuKuLTuR Produkt
Erste Auflage März 2010
Lektorat: Antje Töpel
Satz und Produktionsleitung: Torsten Franz
Druck und Bindung: DDZ-Berlin
Printed in Germany
SuKuLTuR, Artemisstraße 15, 13469 Berlin
www.sukultur.de – sukultur(at)satt(dot)org
ISBN 978-3-941592-12-4
Veröffentlicht unter der
Creative Commons-Lizenz
BY-NC-SA 3.0 DE
KLAPPENTEXT
Die A38, die »Südharzautobahn«, ist der Flurgang eines riesigen Open-Air-Museums. Die Strecke führt am größten Denkmal und an der größten Pyramide Europas vorbei, und am weltweit größten Ölgemälde. Die Merseburger Zaubersprüche, über tausend Jahre alt, lagern ebenfalls unweit des Fahrbahnrands. Und auch ein Sehnsuchtsort der deutschen Popliteratur befindet sich hier, das Café Kolditz in Sangerhausen.
Eine Autobahnumrundung in 24 Stunden, 38 Kapiteln, 864 Kilometern.
ITINÉRAIRE
2. Oktober 2008
Leipzig, »Telegraph« ................... 23:59 Uhr, 0 km
3. Oktober 2008
Leipzig, Völkerschlachtdenkmal .......... 0:37 Uhr, 5 km Rastplatz »Pösgraben« ................... 0:59 Uhr, 27 km Belantis ................................ 1:09 Uhr, 44 km Großgörschen ............................ 1:30 Uhr, 64 km Lützen .................................. 1:53 Uhr, 72 km Röcken .................................. 2:22 Uhr, 77 km Rippach ................................. 2:28 Uhr, 81 km Poserna ................................. 2:34 Uhr, 84 km Weißenfels, Schloß ...................... 3:01 Uhr, 93 km Goseck, Sonnenobservatorium ............. 3:32 Uhr, 104 km Kreuz Rippachtal ........................ 3:59 Uhr, 135 km Abfahrt Leuna/Merseburg ................. 4:03 Uhr, 142 km Bad Lauchstädt .......................... 4:28 Uhr, 159 km Halle-Neustadt .......................... 5:02 Uhr, 196 km Eisleben ................................ 6:14 Uhr, 228 km Allstedt ................................ 6:45 Uhr, 257 km Sangerhausen, Autohof, McDonald's ....... 7:04 Uhr, 269 km Sangerhausen, Rosarium .................. 8:16 Uhr, 273 km Sangerhausen, Café Kolditz .............. 9:28 Uhr, 276 km Sangerhausen, Friedhof .................. 9:41 Uhr, 277 km Kyffhäuserdenkmal ...................... 10:37 Uhr, 308 km Bad Frankenhausen, Panorama-Museum ..... 12:25 Uhr, 323 km Sondershausen .......................... 13:14 Uhr, 347 km Rastplatz »Goldene Aue« ................ 14:00 Uhr, 373 km Stolberg ............................... 14:44 Uhr, 392 km Nordhausen ............................. 15:30 Uhr, 427 km Mittelbau-Dora ......................... 16:06 Uhr, 434 km Bleicherode ............................ 17:04 Uhr, 466 km Leinefelde ............................. 17:32 Uhr, 494 km Teistungen, Grenzlandmuseum Eichsfeld .. 18:05 Uhr, 512 km Heiligenstadt .......................... 19:16 Uhr, 545 km Heidkopftunnel ......................... 19:40 Uhr, 560 km Friedland .............................. 19:51 Uhr, 568 km Dreieck Drammetal ...................... 20:33 Uhr, 577 km Bördel, Sesebühl ....................... 20:53 Uhr, 596 km Göttingen .............................. 21:20 Uhr, 612 km
4. Oktober 2008
Leipzig, »Telegraph« ................... 01:01 Uhr, 864 km
MOTTO
Wo ein Denkmal steht, muss man natürlich hin.
Andreas Neumeister: Könnte Köln sein
2. OKTOBER 2008
LEIPZIG, »TELEGRAPH«
23:59 Uhr, 0 km
Von der Thomaskirche her schlägt es Mitternacht, der Tag der Deutschen Einheit beginnt und gleich auch die Südharzreise. Im Prinzip will ich lediglich innerhalb von 24 Stunden entlang der A38 von Leipzig nach Göttingen fahren und zwischendurch immer wieder kurz ins Hinterland abbiegen, »gegen die Anmaßung der Autobahn, zwischen Punkt A und B könne es nur sie geben«.
Die Weltgeschichte hat ein paar Dutzend Orte neben dieser neuen Autobahn verteilt und der Tourismusindustrie einige Superlative und Einmaligkeiten geliefert. Manchmal müssen diese aber auch klug erfunden werden, denn es kann nur ein größtes Denkmal der Welt, eine größte Kirche Europas, ein größtes Gebäude der Stadt geben. Also wird zeitlich, typologisch und regional eingeschränkt, was schnell lächerlich wirken kann wie die sprichwörtliche ›größte spätgotische Hallenkirche Ostsachsens‹. Und das Kyffhäuserdenkmal ist nur das drittgrößte Denkmal in Deutschland, nach dem Konkurrenten an der Porta Westfalica aber schon das zweitgrößte Kaiser-Wilhelm-Denkmal und sicher das allergrößte Denkmal Nord-, Süd-, Ost-, West- und Mittelthüringens.
Den Genius loci bekommt man normalerweise nur noch gegen Eintrittsgeld zu spüren, aber vielleicht genügt schon das hypertouristische Vorbeirennen an den Orten. In diesem alten Godard-Film zum Beispiel stürmt die »Bande à part« in nur 9 Minuten und 43 Sekunden durch den gesamten Louvre. Für die A38, den über 200 Kilometer langen Flurgang eines riesigen Open-Air-Museumskomplexes, reichen vielleicht 24 Stunden.
Im »Telegraph« interessiert es alle noch mal kurz ein bisschen, einer der Freunde findet es eine gute Idee, dass ich per GPS die Bewegungsdaten aufzeichnen und die aneinandergereihten Koordinaten danach als Reisebericht veröffentlichen möchte. Denn im Prinzip müsse überhaupt niemand mehr selbst von den Dingen erzählen, an denen er vorbeifahre. Auch der Text dieser Reise entstehe einfach schon dadurch, dass ich mich mit meinem Auto »in die Strecke einschreibe«.
Am Ende gibt es noch einen Sturzkaffee aufs Haus, es ist 0:27 Uhr, und nachdem ich mehrfach unverhohlen der Pigafetta des 21. Jahrhunderts geschimpft werde, ist es Zeit.
Über den Martin-Luther-Ring umfahre ich südlich das Zentrum, an der Stadtbibliothek vorbei, die mir aus der Ferne entgegenleuchtet. Das Gebäude ist von außen schön wie eine Matroschka, und ich nutze eine rote Ampelphase, um kurz etwas genauer hinüberzusehen.
3. OKTOBER 2008
LEIPZIG, VÖLKERSCHLACHTDENKMAL
0:37 Uhr, 5 km
Beim Völkerschlachtdenkmal, dem größten europäischen Denkmal der Welt, sozusagen, halten sich Schönheit und Klotzigkeit halbwegs die Waage. Der Bau verliert aber schon bedeutend an Monstrosität, wenn man während der Öffnungszeiten einen rettenden Blick in das Dienstzimmer am Eingang zur Ruhmeshalle wirft und sich bewusst macht, dass sich in der Holzvertäfelung darin seit gut hundert Jahren der Schweiß der Pförtner sammelt. Diese Linderung durch einen Moment Weltlichkeit ist um diese Uhrzeit jedoch nicht möglich, und überhaupt ist hier nicht das Geringste zu sehen, denn das Monument wird gerade aus unerfindlichen Gründen nicht angestrahlt. Erst nach einigen Sekunden in der Dunkelheit kann ich in der Höhe ein paar Schemen ausmachen, die wachenden Walhalla-Krieger, die um die Spitze herumgruppiert sind.
Das Denkmal wurde 1913 eingeweiht, zum hundertjährigen Jubiläum der Schlacht. Ein paar Jahrzehnte davor hatte Nietzsche den Sieg noch als gesamtdeutsches Armutszeugnis interpretiert: »Die Deutschen haben ... mit ihren ›Freiheits-Kriegen‹ Europa um den Sinn, um das Wunder von Sinn in der Existenz Napoleon's gebracht, – sie haben damit Alles, was kam, was heute da ist, auf dem Gewissen, ... sie haben Europa selbst um seinen Sinn, um seine Vernunft – sie haben es in eine Sackgasse gebracht.«
Immerhin gibt es gleich zweihundert Meter weiter einen Napoleonstein, auf dem der Satz zu lesen ist: »Hier weilte Napoleon am 18. Oktober 1813, die Kämpfe der Völkerschlacht beobachtend.« Es wird also aus historischen Gründen daran erinnert, dabei hätte man zum Ausgleich ruhig auch ein paar Dankesworte für den Code civil mit unterbringen können.
Statt über die B2 weiterzufahren und den Anfang der A38 zu verpassen, suche ich die B6 und nehme von dort aus die A14 bis zum Dreieck Parthenaue. Dort beginnt die A38, die den touristisch klingenden Beinamen »Südharzautobahn« trägt, die den Harz selber aber nicht einmal streift, daher also eher »Südlich-vom-Harz-Autobahn« genannt werden müsste. Oder noch treffender: »Kultur- und Weltgeschichts-Supertrasse«. Sie wird seit 1995 gebaut, als Nr. 13 der 17 Verkehrsprojekte Deutsche Einheit, die als großangelegte Integrationsleistungen die Ex-DDR schnell ins europäische Verkehrsnetz hereinholen sollten. Ursprünglich waren an ihrer Stelle zwei kleinere Autobahnen geplant, die man A82 und A140 nennen wollte, auch sehr schöne Namen.
Die A38 zieht sich, zweispurig, über 219 Kilometer vom westlichen Sachsen über das südliche Sachsen-Anhalt durch das nördliche Thüringen und inklusive eines Abstechers nach Nordhessen bis nach Südniedersachsen. Sie endet (oder beginnt) südlich von Göttingen, an der A7, der längsten der deutschen Autobahnen. Noch fehlen ihr aber etwa 35 Kilometer, zwei Teilstücke, von denen das größere zwischen Halle und Eisleben noch Mitte Dezember 2008, das kleinere zwischen Bleicherode und Breitenworbis Ende 2009 freigegeben werden soll.
RASTPLATZ »PÖSGRABEN«
0:59 Uhr, 27 km
Die Dunkelheit lenkt wenigstens nicht vom Weg ab. Auf den ersten Kilometern gäbe es auch nicht viel zu besichtigen, außer der relativ schwer vermittelbaren Sehenswürdigkeit ›Leipziger Tieflandsbucht‹. Trotzdem halte ich kurz auf dem ersten Rastplatz »Pösgraben« an, als Hommage an die internationale Rastplatzforschung.
Julio Cortázar und Carol Dunlop sind im Frühsommer 1982 die Autobahn von Paris nach Marseille abgefahren, ohne sie in 33 Reisetagen auch nur einmal zu verlassen. Übernachtet haben sie in ihrem VW-Bus, mehr oder weniger strikt auf jedem zweiten der insgesamt 65 Rastplätze. Ihr Expeditionsgebiet sollte ursprünglich die Autobahn sein, am Ende wird ihr Material aber zu einer Verherrlichung der Autobahnraststätten, einem Zwischenreich namens ›Parkingland‹.
Ihr Bericht »Die Autonauten auf der Kosmobahn« ist ein Schlüsseltext des abstrakten Tourismus. Die erkundeten Rastplätze sind als Readymades plötzlich Sehenswürdigkeiten und gleichzeitig ihr eigenes Museum. Die ordnungsgemäße Beschriftung dieser Kunstwerke ist nur eine Frage der Zeit: »Auf diesem Rastplatz verbrachte der argentinische Schriftsteller Julio Cortázar die Nacht vom 9. zum 10. Juni 1982, nachdem er gebratene Bananen mit Eiern und Schinken verspeist hatte.«
Während ich weiterfahre und überhaupt während der aktuellen Jahrzehnte entsteht links und rechts von mir das Leipziger Neuseenland, ein Verbund aus Tagebaurestlöchern, die sich langsam mit Badewasser füllen. Rechterhand sehe ich den Cospudener See schimmern, der erst vor ein paar Jahren vollgelaufen ist, der aber wirkt, als sei er schon immer dagewesen. Ein paar Sekunden später erscheint auf derselben Seite die goldgelb funkelnde Pyramide von Belantis.
Der Betreiber dieses neuen Lustparks wirbt ja tatsächlich mit der Behauptung, ›Europas größte Pyramide‹ zu haben. Das Bauwerk ist dabei integraler Bestandteil einer Wildwasserbahn, die über einen Fahrstuhl im Innern der Pyramide und dann beim Abgleiten über eine der Seitenwände ihren Schwung gewinnt. Die klassische Pyramidensemantik wird also ziemlich unterlaufen, und insofern wirkt es herrlich vermessen, dass die Meldung vom Superlativ einfach so verbreitet wird. Auch wenn zum Beispiel die gläsernen Louvre-Pyramiden im Vergleich dazu edler, kunstvoller, sehenswerter, interessanter, schöner und berühmter sind – sie sind eben auch mickriger.
Der Superlativ stimmt natürlich nur, solange kein anderer europäischer Flecken mit einer noch größeren Pyramide bebaut wird. Das ist aber vielleicht schon bald der Fall, wenn sich Ingo Niermanns Idee von der »Great Pyramid« verwirklicht, die er vor zwei Jahren in seiner Vorschlagssammlung »Umbauland« beschrieben hat. Grab- und Gedenksteine von Millionen von Menschen, potenziell allen, sollen sich dabei zu einer riesigen Totenpyramide auswachsen, zum »größten Bauwerk der menschlichen Kultur«. Als möglicher Standort wurde bereits das Dorf Streetz bei Dessau sondiert, allerdings unter dem wilden Protest der bestürzten Anwohner.
Acht Autobahnkilometer hinter Belantis endet Sachsen. Sachsen-Anhalt beginnt und bringt eine reichhaltige Abfahrt: Großgörschen, Lützen, Röcken, Poserna, Rippach, Weißenfels, Goseck.
Nach der Ausfahrt rechts ab und über Starsiedel nach Großgörschen. Auf der Straße vor dem Scharnhorst-Denkmal steht ein Traktor, der sich eilig davonmacht, als ich direkt hinter ihm halte. Vielleicht hat hier ein Bauer zur Feier des Tages noch schnell Scharnhorst gehuldigt. Praktischerweise kann man bis an das Ehrenmal heranfahren und muss nicht einmal aussteigen, um den relativ unsympathischen Riesenadler, der flugbereit auf dem hohen Sockel steht, aus nächster Nähe zu betrachten.
Die A38 ist Kriegsgebiet, entlang der Strecke ist ziemlich viel Blut in die Erde gesickert. Hier in Großgörschen hat Napoleon am 2. Mai 1813 die erste Schlacht nach dem Rückzug aus Russland noch mal heimgeholt. Der gegnerische Scharnhorst wurde dabei ins linke Knie geschossen, erlag dieser Verletzung dann Wochen später ganz woanders, in Prag, hat aber heute trotzdem ein Denkmal hier stehen.
Der kürzeste Weg nach Lützen führt über die Ortschaft Kaja. Die Straße ist dann aber ausschließlich mit Stolpersteinen gepflastert, dagegen muss die Via Appia ein glattgebügelter Salzsee gewesen sein. Eigentlich will ich in Kaja kurz an das Haus heranfahren, in dem Marschall Ney am Vorabend der Schlacht übernachtet hat, aber der Ort zieht unbemerkt an mir vorüber. Irgendwann erreiche ich mit der B87 wieder das 21. Jahrhundert, allerdings nur kurz.
Ich durchquere die gesamte Stadt, bis irgendwo am Ortsausgang die Gedenkstätte für den hier 1632 gefallenen Gustav II. Adolf erscheint. Deshalb wissen alle Schweden, wo Lützen liegt, denn ihr Lieblingsheld hat es bis nach München, bis zum Rhein und zuletzt, immerhin, bis an den Rand dieser sachsen-anhaltinischen Kleinstadt geschafft.
Heute befinden sich zwei Museumsblockhütten und eine schöne Gustav-Adolf-Kapelle südlich der alten Straße nach Leipzig, dort, wo auch das protestantische Heer den kaiserlichen Truppen unter dem reaktivierten Wallenstein gegenüberstand. Die aktuelle Straßenführung entspricht ungefähr der alten, sodass der Lützener Museumsmann bei seinen Führungen stets vermeldet: »Die Kaiserlichen standen nördlich der B87.«
Den Auftakt zur Schlacht am 6. November haben Golo Mann und sein Zitatgeber Wallenstein gemeinsam so beschrieben: »Gegen 11 Uhr beginnt das Eigentliche. Es beginnt mit ›einer solchen furia, daß niemand je solches gesehen noch gehört hat‹, und geht auch so weiter«:
Bis 12 Uhr scheinen die Schweden zunächst zu gewinnen. Allerdings trifft dann Pappenheim mit 3.000 Reitern ein, das Kriegsglück beginnt sich zu wenden. Allerdings wird Pappenheim bald tödlich verwundet, die Schweden gewinnen wieder die Oberhand. Allerdings setzt 13 Uhr Nebel ein, die kaiserliche Front stabilisiert sich. Allerdings verlässt Gustav Adolf dann den rechten Flügel, um den schwächelnden linken zu unterstützen. Allerdings reitet der kurzsichtige Schwede zwischen den Fronten entlang und merkt nicht, wie er den kaiserlichen Linien zu nahe kommt. Er wird abgeschossen, danach ausgeraubt. Allerdings beginnt daraufhin ein Rachesturm der Schweden, die Kaiserlichen ziehen irgendwann ab. Allerdings steht es am Ende doch eher unentschieden.
Vor der Kapelle ist ein Findling aufgebahrt, ein von der Eiszeit herangerollter Vorbote der Ereignisse, der die Stelle markieren soll. Er wurde irgendwo auf dem Schlachtfeld gefunden, später ein bisschen hin und her geschoben und dient nun als körperlicher Ersatz für den gefallenen Schwedenkönig. Überdacht ist er standesgemäß mit einem von Schinkel persönlich entworfenen Baldachin. All das kann ich jedoch kaum erkennen, denn wie eben beim Völkerschlachtdenkmal ist hier nichts beleuchtet, ex septentrione lux nulla.
Da sich wegen der vorgeschrittenen Jahreszeit knapp zwei Drittel der Südharzreise im Dunkeln oder Dämmrigen abspielen werden, beschließe ich, eine Taschenlampe aufzutreiben. Ich fahre wieder längs durch Lützen, zur Aral-Tankstelle am anderen Ende der Stadt. Sie wurde ungefähr genau dort gebaut, wo Klein-Nietzsche einmal mit seinem Vater gestanden hat:
»Wohl kann ich mich noch erinnern, wie ich einstmals mit den lieben Vater von Lützen nach Röcken ging und wie in der Mitte des Weges die Glocken mit erhebenden Tönen das Osterfest einläuteten. Dieser Klang tönt so oft in mir wieder und Wehmuht trägt mich sodann nach den fernen, theuren Vaterhause hin.«
Das steht in der Autobiografie, die er sich als 14-Jähriger verfasst hat. Und heute gibt es an dem beschriebenen Ort eben einen Tankstellenladen, in dem man für 2,95 Euro schrottige kleine Taschenlampen kaufen kann. Aus gegebenem Anlass nehme ich auch noch einen Anti-Nietzsche-Espresso. Keinen Kaffee trinken, rät er im Ernährungskapitel seiner späten Autohagiografie »Ecce homo«, denn: »Café verdüstert«. Draußen ist es im Moment aber sowieso schon düster, also rein mit dem Zeug und wieder raus auf die Bundesstraße.
Noch größer als das Nietzsche-Hinweisschild ist das Protestplakat »TAGEBAU IN UNSERER REGION – NEIN«. 2006 hat die Mitteldeutsche Braunkohlengesellschaft mit Probebohrungen begonnen, um das dort verborgene Kohlevorkommen zu sichten. Mittlerweile wurde das Tagebauvorhaben für Röcken offiziell abgesagt, im näheren Umkreis wurden in den letzten Jahrzehnten aber schon zu viele Dörfer ausgesiedelt, das Schild bleibt also aus taktischen Gründen erst mal noch da stehen. Wobei Nietzsche die Nihilisierung seines Grabs wahrscheinlich gar nicht schlecht gefallen hätte. Ein Schaufelradbagger als Umwerter der Werte.
Neben der Kirche steht ein weißes Figurenensemble: zweimal der nackte Nietzsche mit einem Hut als Lendenschurz, was irgendwie auf einen von ihm brieflich geschilderten Traum anspielt. Und einmal Nietzsche mit Mutter als Stütze, was auf ein bekanntes Foto zurückgeht. Die eben gekaufte Nietzsche-Taschenlampe leistet gute Dienste. Auf der anderen Seite der Kirche die Grabplatten: Friedrich – Schwester Elisabeth – Eltern und Bruder. Die Schwester hat ja mit ihrem wahnwitzigen Ehemann Bernhard Förster in Paraguay die Kolonie Nueva Germania gegründet und später in Weimar den Nachlass ihres Bruders verwaltet und verherrlicht, obwohl dieser sich auf ganz allgemeine Art und Weise von Schwester und Mutter losgesagt hatte: »mit solcher canaille mich verwandt zu glauben wäre eine Lästerung auf meine Göttlichkeit«.
Im alten Stall hinter der Kirche wird übrigens ein kleines Museum bereitgehalten. Die Öffnungszeiten habe ich heute grob unterschritten, alles ist zu und dicht, nur in der angrenzenden Gemeindeverwaltung wird noch in den Feiertag hineingetrunken. Man prostet mir von innen durch die klaren Scheiben fröhlich zu.
Um den kulturhistorischen Anreiz des Ortes noch zu steigern und die Kohlebagger endgültig zu vertreiben, könnte man an dieser Stelle ein Wirtshaus »Zum Großen Mittag« einweihen. Dafür gäbe es sicher EU-Fördergelder, es müsste nur mal jemand den entsprechenden Antrag ausfüllen. Wie Zarathustra könnte man hier täglich um 12 Uhr mit einem umfangreichen Festmahl zu subventionierten Preisen den »Großen Mittag« feiern, um durch übergroßzügig vollgehäufte Teller endlich mal dem Übermenschen ein Stück näher zu kommen, wenn auch vorerst nur im Bauchbereich.
Allerdings würde das Haus einen ernstzunehmenden Konkurrenten in der Nähe haben, schon zwei Minuten weiter entlang der B87, in Rippach.
Dort bleibe ich zehn Sekunden vor dem historischen Gasthof stehen, der es bis in Goethes »Faust« geschafft hat. Und Goethe hat es an die Fassade des Hauses geschafft, dort steht nämlich jetzt das Rippach-Zitat aus der Szene in Auerbachs Keller in Leipzig. Mephisto setzt sich zum Studentenpack, und Frosch fragt ihn gleich:
Ihr seid wohl spät von Rippach aufgebrochen?
Habt ihr mit Herren Hans noch erst zu Nacht gespeist?
Er spielt damit auf die Saufgelage des dortigen Hausherrn an, aber Mephisto erkennt die billige Ironie und verneint. Er richtet dagegen schöne Grüße an Hansens Saufkumpane aus und haut damit Frosch seinen Scherzversuch um die Ohren. Diesen etwas umständlichen Witz muss man nicht gleich verstehen, aber zumindest hier in der Region ist er legendär, und zur Verständnissicherheit wird er auch in allen Stellenkommentaren zum »Faust« noch mal miterklärt.
Wegen des erhaltenen Gasthofs macht die B87 hier übrigens eine scharfe Kurve, in deren Scheitelpunkt sich eine große Plakatfläche befindet, um die sich die Parteien kurz vor den Wahlen immer streiten. Denn man kann nicht anders als im Schritttempo direkt darauf zufahren, und dieses plötzliche Tête-à-tête mit einem Politikergesicht brennt sich bis zum Wahltag ins Gedächtnis.
Auch die B87 hat ein Hinterland, nach Rippach biege ich kurz links ab und fahre über die Landstraße in den nächsten Ort, Poserna.
Ich passiere die Kirche, der mal der Büchermörder Johann Georg Tinius als Pfarrer vorgestanden hat, bis er im März 1813 aus dem Verkehr gezogen wurde. Bis dahin hatte er 60.000 Bände gebunkert, finanziert durch die Mitgift seiner zweiten Frau, durch Schulden, Raubaktionen und offenbar auch durch einige Morde.
Von der Hauptstraße aus fahre ich dann tief in die Seumestraße hinein, bis ungefähr dahin, wo 1763 Johann Gottfried Seume geboren wurde. Das originale Haus wurde im Schlachtenjahr 1813 zerstört und danach durch ein anderes ersetzt, an dessen rotem Backstein dann irgendwann ein Reliefbild und eine Gedenktafel angebracht wurden.
Seume ist als sozialkritischer Fußreisender in die Literaturgeschichte eingegangen, vor allem durch seinen rund 6.000 Kilometer langen »Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802«. Mit steigendem Ingrimm wettert er gegen scheinheiligen Katholizismus und napoleonische Entfremdungserscheinungen. Bei all der protestantischen Correctness verliert Seume aber seinen leicht kauzigen Humor nicht, etwa wenn er irgendwelche propagierten Tourismusziele blitzschnell abhakt: »Ich lief eine Stunde in Pompeji herum, und sah was die andern auch gesehen hatten, ... Die Alten wohnten doch ziemlich enge.«
Kurz vor dem Ende seiner Tour besucht er hier in Poserna noch schnell seine Mutter. Sie hat schon gehört, dass ihr Sohn auf seiner Rückreise kurz vor Rom ausgeraubt worden ist und steckt ihn nun, keinen Widerspruch duldend, in einen Wagen, der ihn zu seiner Endstation Leipzig bringt. Nur ein paar Jahre später wird der Buchjunkie Tinius auf derselben Strecke Ausschau nach derlei Reisenden halten, um sie mit präpariertem Schnupftabak einzuschläfern und auszurauben.
Ich muss weiter in die andere Richtung und fahre auf der B87 wieder nach Westen, Richtung Weißenfels und Goseck. Gegen 2:45 Uhr unterquert die Bundesstraße die A9, die als Erbe der Reichsautobahn Berlin–München natürlich eine ganz andere Aura hat als die blutjunge A38.
WEISSENFELS, SCHLOSS
3:01 Uhr, 93 km
In Weißenfels nehme ich die Leipziger Straße ins Zentrum. Über der Altstadt schwebt das Schloss Neu-Augustusburg, das von unten riesig und unerreichbar wirkt wie Kafkas »Schloss«. Die Weißenfelser Kurzfassung des eigentlich unabschließbaren »Schloss«-Romans geht dann aber so: Der Landvermesser K. kommt in der Stadt an, parkt an der Promenade, rennt dann einfach die Schlossgasse hoch und weiter durch das Tor in den riesigen Schlosshof, Ende.
Im Durchgang zum westlichen Schlossvorplatz hängt eine Tafel zu Ehren der 69. Infanteriedivison der US Army, die Mitte April 1945 die Stadt eingenommen hat. Vielleicht muss damit das große Weißenfels-Amerika-Buch beginnen, über den behaupteten Zusammenhang zwischen Weißenfelser Kindheit und anschließender US-amerikanischer Karriere:
Horst P. Horst, hier 1906 geboren, studiert dann Architektur in Hamburg und bei Le Corbusier in Paris, wird dann aber doch lieber Fotograf und stilbildend vor allem mit seinen Arbeiten für die »Vogue«, in der er 1931 zum ersten Mal publiziert. Kurz darauf siedelt er nach Amerika über.
Konrad Dannenberg, hier 1912 geboren, ist als Raketeningenieur unter Wernher von Braun an der Entwicklung der V2 beteiligt, geht dann mit dem German Rocket Team in die USA und bastelt dort mit an der Mondflugrakete Saturn V.
Gérard Tichy, hier 1920 geboren, beendet den Krieg als Leutnant, flieht dann recht abenteuerlich aus französischer Gefangenschaft und wird in seiner neuen Heimat Spanien zum Selfmade-Schauspieler. Relativ schnell bekommt er gute Rollen, auch in US-amerikanischen Großproduktionen mit spanischen Drehorten, in Nicholas Rays »King of Kings«, in Anthony Manns »El Cid« oder David Leans »Doktor Schiwago«.
Hermann Eilts, hier 1922 geboren, schon 1930 amerikanischer Staatsbürger, wächst in Scranton, Pennsylvania, auf. Ist dann US-Botschafter in Saudi-Arabien und Ägypten, entgeht einem Attentat libyscher Killer und handelt 1978 das Camp-David-Abkommen mit aus.
Max Frankel, zwar in Gera geboren (1930), aber kurz darauf eröffnen seine Eltern ein Geschäft auf dem Weißenfelser Marktplatz. Als Juden werden sie 1938 nach Polen deportiert, Frankel sieht die Stadt zum vorerst letzten Mal von der Rückbank eines Gestapowagens aus. 1940 trifft er mit seiner Mutter in New York ein, beginnt nach dem Studium gleich bei der »New York Times« und ist von 1986 bis 1994 ihr Chefredakteur. Er besucht die inzwischen hoffnungslos triste Stadt seiner Kindheit zum ersten Mal wieder Mitte der Sechziger und schreibt daraufhin für die »Times« seinen ersten Text in der Ich-Form.
Das große Weißenfels-Amerika-Buch, demnächst.
Um die Ecke, in der Klosterstraße, steht das Novalishaus. Bevor 2001 der 200. Todestag Friedrich von Hardenbergs begangen wurde, waren die oberen Etagen noch weitgehend mit Büros der Stadtverwaltung belegt, auch das Sterbezimmer, wo ihn Friedrich Schlegel hat aushauchen sehen. Bis vor ein paar Jahren also lagen japanische Novalistouristen mit Sommerhüten noch heulend vor diesem authentischsten Ort deutscher Popromantik, weil ihnen der Zugang verwehrt wurde.
Wie Hedwig Courths-Mahler in ihren Jugendjahren pilgere ich schnell noch zum Novalisgrab im Stadtpark. Sie hat dort nach eigener Aussage ihre »Phantasie in das Land der Träume versetzt« und dann, offenbar aufgrund dieser fehlgeleiteten Novalisrezeption, über 200 Romanschmonzetten verfasst. Vielleicht sollte man an der Novalisbüste eine Infotafel anbringen, die ganz kurz die Ergebnisse der historisch-kritischen Novalisedition zusammenfasst, damit so etwas nie wieder geschieht.
Die letzte Station dieses ersten Vorstoßes ins Hinterland der A38 ist die Kreisgrabenanlage bei Goseck. Ich überquere die Saale und biege nach links ab, fahre durch Markwerben, Uichteritz und Markröhlitz und folge dann dem touristischen Hinweisschild, das kurz vor Goseck nach rechts zeigt.
GOSECK, SONNENOBSERVATORIUM
3:32 Uhr, 104 km
Es ist sicher der falscheste Zeitpunkt, um ein Sonnenobservatorium zu besuchen. Es ist stockfinster, denn wie vorhin das Völkerschlachtdenkmal und der Gustav-Adolf-Findling sind auch die mächtigen Palisadenringe der Kreisgrabenanlage nicht beleuchtet.
Laut Tourismus-PR handelt es sich hier also um den Ort, an dem das älteste bekannte Sonnenobservatorium der Welt vor 7.000 Jahren seinen Betrieb aufnahm. Auf Luftbildern hatte man in den Neunzigern einen ungefähren Ring im Feld entdeckt, der auf ein Stück künstlich veränderten Boden hinwies. Es kam zu Ausgrabungen und zu der Vermutung, dass hier anhand von ein paar Lücken in einem längst verrotteten doppelten Holzpfahlring die Sonnenwenden begangen wurden. Inzwischen hat man vor Ort alles entlang dieser Vermutungen rekonstruiert. Die frischen Holzpfähle, die man aus auratischen Gründen für Originale halten möchte, stammen aus einem nahen Forst.
Natürlich wurde alles archäologisch korrekt abgeglichen mit anderen Funden in Europa. Mit etwas neolithischer Fantasie kann ich mir auch vorstellen, was hier eventuell geschehen ist. Es kann aber alles auch ganz anders gewesen sein. An einigen Stellen wurden Rinderschädel gefunden, die vielleicht zu Opfertieren gehört haben. Viel interessanter wäre es doch aber, wenn die Überreste der Nutztiere darauf hinwiesen, dass es sich hier um eine Kuhweide für besonders eigensinnige Tiere gehandelt hat, die daher zur Sicherheit von einem doppelten Ring aus Holzpflöcken eingezäunt war.
Ich lese mit der Nietzsche-Taschenlampe noch schnell die Infotafeln ab, ob sich inzwischen nicht doch neue Erkenntnisse ergeben haben. Eine historische Kuhweide würde ich mir besonders gern ansehen wollen.
KREUZ RIPPACHTAL
3:59 Uhr, 135 km
Über die B176 gelange ich wieder zur B87 und auf dieser zu der Ausfahrt, wo ich die Autobahn vor zweieinhalb Stunden verlassen habe. Nach ein paar Minuten auf der A38 erreiche ich das Kreuz Rippachtal, wo sie auf die A9 trifft. Der Betonstrang zur Auf- und Abfahrt wirkt wie eine verbogene Variante der Schwebebahnlinien von Gotham City. Wer das nicht selber sieht, muss sich Hans-Christian Schinks Fotoreihe zu den Verkehrsprojekten Deutsche Einheit ansehen. Mit seinem Faible für die Zweckarchitektur von Fahrbahnen, Straßenbrücken und Pfeilerwäldern treibt er das Projekt von Cortázar und Dunlop weiter und schafft leichte Vorlagen für die Fantasie. Die beiden Rastplatztouristen hatten die Abfalleimer an den Parknischen nur für »teutonische Ritter« gehalten. Bei Schinks Fotos der A38-Brücke zwischen Schkortleben und Oeglitzsch, die ich zwei Minuten nach dem Autobahnkreuz überquere, wird eine so einfache Wahnvorstellung nicht ausreichen. Er zeigt die Konstruktion von unten, beide Fahrbahnen werden von vielen staksigen Doppelpfeilern getragen, und von Tausendfüßlern und Dinosauriern bis hin zu DNA-Strängen und einer Ansammlung von Hydraköpfen kann man hier alles assoziieren.
ABFAHRT LEUNA/MERSEBURG
4:03 Uhr, 142 km
An der Erdölraffinerie bei Leuna muss man tief nachts vorbeifahren. Denn nur dann passiert man ein hell erleuchtetes Industrie-Manhattan, eine Lichter-Silhouette, an der man sich nicht satt sehen kann. Ex Leuna lux. Die schöne Erstrahlung dieses schrecklichen Chemiestandortes ist eine besonders gelungene apokryphe Schrift zu Marinettis futuristischem Manifest.
Das blaue Hinweisschild für die Abfahrt nach Leuna und Merseburg verschweigt übrigens einen Ort, der nur einen Kilometer Luftlinie von der Autobahn entfernt liegt: Großkorbetha. Seine literaturgeschichtliche Bekanntheit wird mit den Jahren allerdings sicher steigen, denn Robert Gernhardt und sein lyrisches Ich sind einmal mit dem ICE am Ankündigungsschild »Großkorbetha« vorbeigefahren und haben dieses Erlebnis in dem Gedicht »An der Strecke Berlin–Weimar« verarbeitet.
Zunächst schoss die Bahn allerdings am Ortsschild »Merseburg« vorbei und erweckte damit automatisch die Erinnerung an einen Schwung ältester deutscher Verse, die Merseburger Zaubersprüche aus dem 9. oder 10. Jahrhundert. In Gernhardts Gedicht werden am Ende jeder Strophe auch ein paar der heidnischen Worte zitiert:
Auf einmal heißt es:
Merseburg.
Und du, wie unter
Zauber
Siehst nicht die laubfroschgrüne
Lok
Hörst nur den alterswehen
Klang:
Eiris sazun idisi
Während dieser Schwelgerei in Literaturgeschichte zieht eine neue Ortstafel vorbei:
Schau an: Jetzt heißts Groß-
korbetha
Das endet jeden
Zauber
Der Name dieses Dorfs, Großkorbetha, ist also in der Lyrik von Robert Gernhardt das Entzauberungswort schlechthin, der genaue Gegensatz zu dem von Novalis besungenen »Einen geheimen Wort«, vor dem »das ganze verkehrte Wesen« der Welt demnächst fortfliege. Und der verärgerte Dichter tut dem Ort dafür das Schlimmste an, was man ihm innerhalb eines Gedichtes antun kann: Er verteilt den Ortsnamen vorsätzlich per hart eingefügtem Trennzeichen auf zwei Zeilen.
BAD LAUCHSTÄDT
4:28 Uhr, 159 km
Wieso werden in den Zeitungen neben Büchern und Filmen eigentlich nicht systematisch Autobahnen rezensiert? Die haselnussbraunen Kulturhinweisschilder, die am Fahrbahnrand verteilt sind, bilden ja schon ein perfektes Inhaltsverzeichnis für die zu besprechende Strecke.
Auch das historische Goethe-Theater in Bad Lauchstädt wird am Rand der A38 in beiden Fahrtrichtungen auf einem derartigen Schild verschlagwortet. Im Stadtzentrum wird man dann anhand einer Einbahnstraße direkt am Theater vorbeigeführt. Ich halte dort an und stelle mich jetzt auch wirklich ein paar Sekunden so schräg dem Eingang gegenüber. Im Prinzip ist in diesem Gebäude nicht viel geschehen. Es wurde 1802 eingeweiht und danach für ein paar weitere Sommer lang vom Weimarer Theater bespielt, das hier schon seit 1791 gastierte. Dabei wurde für die gelangweilten Kurgäste und ein paar Hallenser Studenten noch mal das Programm der vergangenen Saison abgespult. Die Bühne ist heute noch in Betrieb, und der zugehörige Superlativ, nach dem es sich hier um »das einzige original erhaltene Theatergebäude der Goethezeit« handelt, trägt sicher einiges zur Tourismusfähigkeit der Immobilie bei.
Ich laufe noch ein bisschen umher. Die Kur-Atmosphäre ist um diese frühe Zeit ganz gut nachvollziehbar. Es ist zwar etwas kalt, aber auch erholsam still. Ganz in der Nähe gibt es noch ein Haus mit Gedenkhinweis. Goethe hat zwei Monate darin gewohnt, um den Bau des Theaters zu überwachen. Sein Gedicht »Ein Gleiches« mit seinen Gipfeln und Wipfeln musste er noch selber an die Jagdhütte auf dem Kickelhahn ritzen, heute werden die »Goethe war hier«-Sprüche von offizieller Seite organisiert.
Ein Schlenker über Delitz am Berge bringt mich zur Autobahn zurück, und ich fahre die letzten Meter der Ausbaustrecke. Die folgenden 22 Kilometer der A38 sollen erst in zwei Monaten eröffnet werden. Bis dahin muss man auf die A143 ausweichen. Wie die A38 ist auch sie Teil des 13. der Verkehrsprojekte Deutsche Einheit und natürlich auch noch nicht fertiggestellt. Man gelangt aber bis auf die Höhe von Halle, das rechterhand schon den Horizont zu füllen beginnt, und das ist eine gute Gelegenheit, um über die B80 kurz nach Halle-Neustadt hineinzufahren.
HALLE-NEUSTADT
5:02 Uhr, 196 km
Peter Richter ist als Redakteur der »Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung« unter anderem zuständig für die enthusiastische Vermittlung von Themen jenseits bürgerlicher Kunsterwartung. In dieses Spektrum passt auch seine Dissertation, die er vor zwei Jahren an der Uni Hamburg abgeliefert hat. Es geht darin um den DDR-Plattenbau, diesen »Exzess der Moderne«, der einmal ganz kunstgeschichtlich betrachtet wird, und nur die Fußnotensetzung durchbricht den dezent verschwärmten Schreibduktus. Richter ist vor allem in Leinefelde gewesen, wo sich 90 Prozent der Wohnungen in Plattenbauten befinden, und was für ein Zufall, die A38 führt genau daran vorbei. Allerdings erst heute Abend.
Das Thema beginnt aber schon hier in Halle-Neustadt. Diese Satellitensiedlung für 100.000 DDR-Bürger wirkt bei Nacht wie von Italo Calvino ausgedacht. Jeder der von ihm beschriebenen ›unsichtbaren Städte‹ liegt eine verquere Gesellschaftsutopie zugrunde, und das trifft ja auch auf den industriellen Wohnungsbau zu. Calvinos Buch ist erschienen noch bevor 1973 das Wohnungsbauprogramm der DDR beschlossen wurde, viele Kapitel daraus lesen sich aber wie der zugehörige Abschlussbericht.
Um diese Uhrzeit wirkt jede Stadt unbewohnt, aber in Halle-Neustadt ist die Diskrepanz zwischen sichtbarem Wohnraum und unsichtbarer Bevölkerung besonders groß. Die schrumpfende Stadt wirkt schon wie eine verlassene Stadt, als ob die Bewohner weitergezogen sind wie in Eutropia, von der Calvino seinen Städteinspekteur Marco Polo berichten lässt. Die Eutropianer haben ein Ensemble völlig gleicher Städte erbaut, bewohnen aber immer nur eine davon, bis der Überdruss siegt und sich jeder in der nächsten Stadt einen anderen Beruf und eine andere Familie sucht.
Zu diesem Bedeutungsumfeld gehört auf jeden Fall auch der russische Film »Ironie des Schicksals« von 1975, eine nationalepische Verwechslungskomödie in Plattenbau-Settings. Ein paar Moskauer Freunde treffen sich am 31. Dezember traditionell zu Sauna und Wodka, die meisten von ihnen trinken sich zielgerichtet in die Unzurechnungsfähigkeit. Einer der Komasäufer muss aber noch nach Leningrad, und die beiden nüchtern Gebliebenen setzen aus Versehen den Falschen ins Flugzeug. Dieser schleppt sich nach der Ankunft zu einem Taxi und bringt gerade noch so Straße und Hausnummer heraus. Er merkt gar nicht, dass er inzwischen in Leningrad ist. Seine Moskauer Straße mit genau denselben Plattenbauten gibt es aber auch in der anderen Stadt, und dann passt sogar noch sein Schlüssel in der fremden Haustür. Er lässt sich zum Ausnüchtern irgendwo hinfallen. Und dann kommt die Hausherrin, und es gibt einen Disput über die absurde Situation, der aber nach einigen Filmstunden inklusive Gesangseinlagen in plötzliches Liebesglück umschlägt.
Auch wer sich in Halle-Neustadt verläuft oder verfährt, ist niemals selbst schuld. Jetzt nachts die Magistrale zu verlassen, ist jedenfalls keine gute Idee. Direkt am Straßenrand halte ich an einem baufälligen Eingangsgebäude des Tunnelbahnhofs. Auf einem Ankündigungsschild ist zu lesen, dass hier in ein paar Wochen alles abgetragen und umgebaut werden soll. Aber noch ist der Bahnhof nicht abgesperrt, bei flackerndem Deckenlicht spaziere ich durch die unterirdische Graffitilandschaft, gehe kurz über die Gleise und sehe in den S Bahn-Tunnel, der all die schlechten Action- und Horrorfilme zitiert, die in dieser Atmosphäre beginnen oder enden.
Zwei Minuten später habe ich wieder die B80 erreicht und fahre weiter nach Westen, am Süßen See vorbei, und sehe irgendwann vor Eisleben Flakscheinwerfer am Himmel, hoffentlich nur eine Lichtinstallation.
Luther ist mehr oder weniger zufällig in Eisleben geboren und gestorben. Seine Eltern waren 1483 nur für ein paar Monate in der Stadt und zogen bald nach seiner Geburt nach Mansfeld. Und anlässlich seines bevorstehenden Lebensendes hat sich Luther 1546 noch einmal kurz nach Eisleben rufen lassen, um einen Streit der Grafen von Mansfeld zu schlichten. Luthers Geburt und Tod haben sich natürlich auch noch in zwei verschiedenen Häusern ereignet, was gut ist für Eisleben, denn obwohl die ursprünglichen Gebäude nicht mehr stehen, ist das ja ein verdoppelter Tourismusgrund.
Auch sonst hat Luther den Immobilienbestand der Innenstadt ganz gut in Stellung gebracht: Es gibt noch die Petrikirche, in der er getauft wurde, die Annenkirche, in der er sich als Vikar mehrmals aufhielt, und die Andreaskirche, in der er seine letzte Predigt absolvierte.
Nietzsche zufolge müsste Eisleben zudem auch ein katholischer Wallfahrtsort sein: »Luther, dies Verhängniss von Mönch, hat die Kirche, und, was tausend Mal schlimmer ist, das Christenthum wiederhergestellt, im Augenblick, wo es unterlag ... Die Katholiken hätten Gründe, Lutherfeste zu feiern, Lutherspiele zu dichten ...«
Wie bei Scharnhorst in Großgörschen kann man mit dem Auto direkt an das Lutherdenkmal auf dem Marktplatz heranfahren und braucht nicht einmal auszusteigen. Ringsum leuchten einige Straßenlaternen, aber Luther selber wird nicht angestrahlt. Und die Nietzsche-Taschenlampe ist zu schwach, um ihn auf diese Entfernung aus dem Dunkel zu holen.
Ich irre noch ein wenig mit dem Auto durch die Stadt, bis ich die B180 finde, die mich zur A38 bringt, deren Ausbaustrecke bei Rothenschirmbach wieder beginnt. An der nächsten Abfahrt liegt Allstedt, der erste der Thomas-Müntzer-Orte. Heute Mittag folgen noch Bad Frankenhausen und Stolberg, und wenn eine Autobahn so unzufällig all diese Müntzer-Stätten erschließt, hätte sie in DDR-Zeiten sicher »Thomas-Müntzer-Trasse« geheißen.
Müntzer war nur ein Jahr und vier Monate in Allstedt. Aber hier hatte er die Eingebungen seines Lebens, mit Muße schrieb und predigte er sich immer näher ans Schafott. Die ihm zugeteilte Johanniskirche steht nicht mehr, also fahre ich direkt hoch zum Schloss. Ich laufe am wild bellenden Wachhund vorbei durch das Burgtor in den Hof bis zu dem Schild mit dem Hinweis auf Müntzer, auf den 13. Juli 1524, auf die Fürstenpredigt, die hier stattgefunden hat, wahrscheinlich in der damaligen Schlosskapelle. Die zukünftigen Kurfürsten, Johann von Sachsen und sein Sohn Johann Friedrich, müssen nicht schlecht gekuckt haben, als ihnen der Radikalinski Müntzer mit dem apokalyptischen Traum Nebukadnezars aus dem Buch Daniel kurz mal erklärte, welche Umsortierungen im Ständeschema er zu Ehren Gottes vorsieht.
Auf dem Rückweg über den Hof sehe ich rechts so eine Art Galgen an mir vorbeiziehen, von der Größe her ein Hundegalgen. Das Bellen hat nie ganz aufgehört, und unvermittelt nimmt auch der Burghahn am Konzert der Allstedter Schlossmusikanten teil und kräht sich die Zunge aus dem Hals.
An der Autobahnauffahrt sehe ich vor der Dämmerkulisse die erste Spitzkegelhalde. Sie war noch unsichtbar, als ich vorhin an ihr vorbeigefahren bin. Jetzt hebt sie sich fast pyramidal in den Himmel, und schon ein paar Sekunden weiter, bei Niederröblingen, folgt die nächste. Landschaftsarchitektonisch geben diese Kunstberge auf jeden Fall brauchbare Leitbilder für Ingo Niermanns »Great Pyramid« ab.
SANGERHAUSEN, AUTOHOF, MCDONALD'S
7:04 Uhr, 269 km
Entlang der A38 gibt es im Moment noch keine Autobahnraststätte mit Restaurant und Tankstelle. Dafür befindet sich bei Sangerhausen ein Autohof mit einem McDonald's. Ich halte dort an und gebe mich kurz einer akut auftretenden Müdigkeit hin, und während um 7:14 Uhr offiziell die Sonne aufgeht, träume ich von Autobahnasphalt und Bitumenmischungen.
Um 7:19 Uhr weckt mich ein Rasseln, ein Lachen, ein fröhliches Geschrei. Ich stehe genau vor dem Eingang der Filiale, den jetzt eine Art zehnköpfige Familie durchschreitet. Ein Gemisch aus Onkeln, Tanten, Neffen, Nichten. Sie wollen am Feiertag morgens um sieben vielleicht einfach mal schön Fastfood essen gehen. Ich ja auch.
Ich sitze in Hörweite der Familienleute und versuche herauszufinden, wer sie sind und was sie hier wirklich vorhaben, aber kein einziger geäußerter Satz hat etwas mit dem vorhergehenden zu tun. Cortázar in seiner euphorischen Paranoia würde bei dieser Sachlage natürlich erst recht davon ausgehen, dass hier eine Spionageabteilung der Autobahnpolizei am Werk ist.
Ich schaue mir die nächsten Ziele in Sangerhausen an: Rosarium, Café Kolditz, Einar Schleef.
SANGERHAUSEN, ROSARIUM
8:16 Uhr, 273 km
Das Rosarium hat wirklich auch heute am Feiertag ab 8 Uhr geöffnet. Vor mir liegt eine weite Landschaft, in die man bis ganz weit nach hinten sehen kann, wie auf einem Patinir-Gemälde, mindestens. Die rechterhand ins Bild rückenden Plattenbauten wirken darin wie ein besonders schönes Detail, ebenso die plump in den Sichtweg gesetzte gigantische Abraumhalde, die es bis zum offiziellen Wahrzeichen Sangerhausens gebracht hat.
Ich schreite zuerst die Beete ab, die mit der ADR, der »Allgemeinen Deutschen Rosenneuheitsprüfung« zu tun haben, und lese alles ganz genau durch. Nur wer alle Einzeltests besteht, darf sich »Anerkannte Deutsche Rose« nennen. Einen Großteil ihres Renommees bezieht die ADR eventuell aus der Verwechslungsgefahr mit der ARD.
Es gibt hier über 8.300 Rosenarten, die alle irgendwie heißen, zum Beispiel »Goldmarie«, »Heinzelmännchen«, »Lavaglut«, »Grande Amore« oder »Greensleeves«. Irgendwo muss eine Sammlung noch nicht besetzter schöner Wörter existieren, die bei neu gezüchteten Rosen zum Einsatz kommen kann. Diese noch nicht ans Ende gekommene Namensidylle ist vielleicht die letzte Bastion deutscher Vulgärromantik.
Die wechselnden Schriftarten und die anarchischen Worttrennungen auf den Informationstafeln irritieren mich zunehmend. Aus der Masse der einzelnen Rosenkomplexe ragt die Hermenbüste der Kaiserin hervor, Auguste Viktoria, die mal Protektorin deutscher Rosenfreunde gewesen ist. Die Statue war nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst vergraben worden. Es war aber kein Problem, sie schon 1983 wieder auszubuddeln und neu aufzustellen, da die Gemahlin Wilhelms II. aussieht wie eine harmlose Blumenverkäuferin.
Ich bin etwas ziellos, die Zahl 8.300 ist keine Orientierung, also suche ich auf dem Plan nach, warum nicht, einer extra vermerkten Attraktion, der »schwarzen Rose«, der »Nigrette«. Und statt weiter durch die breite Anlage zu wanken, bin ich jetzt ein guter Tourist, finde zielgerichtet diese Wunderblume, sehe kurz ganz genau hin, stelle fest, dass sie höchstens dunkelrot ist, und gehe dann zum Ausgang.
SANGERHAUSEN, CAFÉ KOLDITZ
9:28 Uhr, 276 km
Das Café Kolditz gegenüber dem Bahnhof ist der Sehnsuchtsort der deutschen Popliteratur. Es ist ganz gut, dass es heute geschlossen hat. Die Öffnungszeiten sind generell geschrumpft. Ich hätte mich als Reisegruppe für eine persönliche Bewirtung anmelden können, aber ich habe lieber auf eine Bratwurst am Kyffhäuser hin geplant.
Christian Kracht und Eckhart Nickel haben in ihrem Weltreiseführer »Ferien für immer« dazu geraten, die gesamte Ex-DDR unbedingt zu meiden, »außer dem Caféhaus Kolditz in Sangerhausen und den Musikalienort Markneukirchen«. Nachdem das Buch 1998 erschienen war, fuhren Heerscharen von Orientierung suchenden Studenten nach Sangerhausen und aßen die legendären Windbeutel der angeschlossenen Konditorei. Inzwischen gibt es im Lokal eine Popliteraturecke, die aber nur illuminiert wird, wenn sich die Stifter angesagt haben.
Wie ich so vor der Auslage herumstehe, kommt aus dem gegenüberliegenden Haus ein engagierter Sangerhäuser herausgestolpert. Ein sehr interessantes Gespräch folgt, bei dem all meine Detailfragen zum Café abgewiesen und umgelenkt werden auf Informationen zum Spengler-Museum, das sich »gleich da drüben« befinde. Es dauert eine Weile, bis ich seine Agenda erkenne, aber da ist er auch schon fertig mit seinem Vortrag, er grüßt und geht zurück ins Haus.
SANGERHAUSEN, FRIEDHOF
9:41 Uhr, 277 km
Ich fahre die Ernst-Thälmann-Straße weiter bis zum Friedhof und verlasse das Auto diesmal nicht im Laufschritt. Ich passe mich dem Tempo der Gießkannenfrauen an und frage eine von ihnen nach dem Grab von Einar Schleef. Sie kennt ihn natürlich, wie jeder hier in Sangerhausen, auch wenn sie ihn dauernd »Elmar Schleef« nennt und nichts über ihn weiß, nur, dass man ihn kennt. Nach etwa fünf Minuten habe ich das Gefühl, dass sie das Finden des Grabes künstlich hinauszögert.
Es ist meine eigene Schuld, denn eigentlich brauche ich ihre Hilfe nicht. Ich bin Ende 2002 schon einmal hier gewesen, nachdem ich in der »Frankfurter Rundschau« einen Artikel von Frank Keil gelesen hatte, der die schöne Überschrift trug: »Unternehmen Heimatsohn«. Er handelte von all den Sachen, die Sangerhausen seinem verlorenen Sohn übelnimmt, denn dieser hat sich in seinem Romanungetüm »Gertrud« sehr an seiner Heimatstadt abgearbeitet, was nicht immer so gut ankam, wie Keil von einem Mitglied des lokalen Einar-Schleef-Arbeitskreises erfuhr: »Allein die Schilderung, wie der Lateinlehrer hinter einem Busch seine Notdurft verrichtet – dabei gilt dieser im Kollegium als der klügste und angesehenste Kopf.«
Schleef ist 1944 in Sangerhausen geboren, 2001 in Berlin gestorben, und jetzt auf eigenen Wunsch wieder in seinem Geburtsort angelangt. Als Erklärung ist auf dem Grabstein das Zitat aus dem »Heinrich von Ofterdingen« angebracht, das auch den beiden »Gertrud«-Bänden vorangestellt ist: »... und er sah nach Thüringen, welches er jetzt hinter sich ließ, mit der seltsamsten Ahnung hinüber, als werde er nach langen Wanderungen von der Weltgegend her, nach welcher sie jetzt reisten, in sein Vaterland zurückkommen, und als reise er daher diesem eigentlich zu.«
Als wir den Grabstein endlich finden, hat mich die hilfsbereite Frau über alle Schikanen der Friedhofsverwaltung umfassend informiert. »Ach ja, der Schleef«, sagt sie noch.
Vom Stadtring aus erreiche ich über die Erfurter Straße um genau 10:00 Uhr wieder die A38. Hier fahre ich eine Weile mit 60 Stundenkilometern, denn dieses Teilstück ist berüchtigt für seine Autobahnfußgänger. Irgendwelche jungen Leute kürzen hier gern den Weg von der Stadt zum McDonald's ab, weil es ihnen bis zur nächsten Autobahnbrücke zu weit ist.
Es ist inzwischen ein klarer schöner Tag geworden, Kaiserwetter, und nach ein paar Kilometern sehe ich passend dazu die Kaiserkrone, die das Kyffhäuserdenkmal vom Himmel abgrenzt.
Die Abfahrt Roßla führt über Kelbra zur B85. Am Ortsausgang beginnt heutzutage Thüringen, und für die nächsten 4,5 Kilometer bergauf werden per Warnschild gleich 36 Haarnadelkurven angezeigt.
KYFFHÄUSERDENKMAL
10:37 Uhr, 308 km
Vor fünf Jahren war ich zum letzten Mal hier, und unterhalb des Denkmals tobt noch immer der Bratwurstkrieg. Direkt am Parkplatz gibt es echte chemiefreie Thüringer für 1,50 Euro. 50 Meter weiter sind es echte chemiebelastete Thüringer, die dafür nur 1 Euro kosten. Die Agitation geht vom teureren Stand aus. Ich gehe aber erst mal auf diese blaue Plastikplane zu, die eines der am schönsten gelegenen deutschen Denkmäler verdeckt, eine fünf Meter hohe Hindenburgstatue. Der Koloss war nach dem Krieg gestürzt und, nachdem es nicht gelungen war, ihn zu sprengen, vergraben worden, wie eben im Rosarium die Auguste Viktoria.
2004 wurde das Monument wiederentdeckt, und die Plane dient nun als Sichtschutz, denn es ist natürlich umstritten, es darf offenbar nicht einfach so angesehen oder herausgehoben werden. Eingeweiht wurde das Denkmal im Mai 1939. Im Katalog des Deutschen Rundfunkarchivs wird die Rede eines unbekannten Einweiheredners zusammengefasst:
»Hitler hat befohlen, kein Denkmal zu errichten, das er vorher nicht gesehen hat /
Dieses Denkmal hat er für gut befunden«
Vor dem Sichtschutz steht ein hölzerner, etwas kleinerer Zweithindenburg, um aufmerksam zu machen. Kurz vor der Aufstiegsschneise wird ein Touristenbus entladen, und die Insassen ziehen vorbei und halten den Holzmann ziemlich oft und ziemlich belustigt für Stalin, und es stimmt, Hindenburg und Stalin hatten den genau gleichen Schnurrbart und Bürstenhaarschnitt. Man hätte das Denkmal also, statt es mit einem T-34 umzupflügen, mit einem Stalin-Namensschild versehen und bis mindestens 1953 noch dort belassen können.
Seltsamerweise steht hier noch eine andere, nicht ganz fertige Holzfigur, und es ist tatsächlich Angela Merkel, die ja weder mit der Schlacht bei Tannenberg noch mit dem Kyffhäuser irgendetwas zu tun hat. Vom 1-Euro-Bratwurst-Stand her nähert sich ein Verantwortlicher, der mir erklärt, warum die Kanzlerin jetzt da aufgebaut wurde, aber ich vergesse den Grund sofort wieder. Er schiebt die giftblaue Plane beiseite. Direkt dahinter beginnt die offene Grube, in der Reichspräsident Hindenburg etwas schräg herumliegt. Die Porphyrstatue von Hermann Hosaeus sieht aus wie eine gestürzte Ikone der Neuen Sachlichkeit und als habe von Anfang an jemand wie Baselitz oder Kiefer geplant, dass sie genau so liegend präsentiert wird.
Wegen dieser herrlichen Zusatzattraktion, die unbedingt genau so erhalten werden muss, vergesse ich fast die eigentliche Sehenswürdigkeit, das drittgrößte Denkmal Deutschlands. Ich rase kurz hin, schaue nach oben, sehe ungefähr die Kaiserkrone, darunter Wilhelm I., der mit seinem Ross aus dem Umriss hervorsprengt. Als Denkmalsfuß dient der in Fels gehauene Bart namens Barbarossa, der aber ohne Eintrittskarte nicht sichtbar ist.
Während ich so nach oben schaue, unterhalten sich knapp vor mir zwei dieser ›Männer über fünfzig mit Digitalkameras‹, wie sie Arezu Weitholz einmal genannt hat. Der eine belehrt gerade den anderen, wer da oben jetzt genau zu sehen ist. »Der Wilhelm hat ja damals ...«, sagt er dann auch noch, aber ich beende sofort dieses unfreiwillige Zuhören, indem ich weiter zur Unterburg rase, wo ich aus touristischen Gründen einige Sekunden stehen bleibe, und dann wieder zurück zum Ausgangspunkt.
Am 1-Euro-Stand sehe ich den Hindenburg-Verantwortlichen stehen und kaufe ihm zum Dank eine Bratwurst ab. Ich habe sie gerade fertig verschlungen, als ich am 1,50er-Stand vorbeikomme, in dessen Nähe das Auto steht. Die Bratwurstfrau hat genau gesehen, dass ich eine feindliche Wurst verspeist habe und verwickelt mich umso dringlicher in ein Gespräch. Ich höre ihr gern zu, sie nennt wirklich 50 gute Gründe und fragt mich suggestiv, ob mir die Fremdwurst wirklich geschmeckt hat. Sie seziert eine der echten Echten und fragt mich, ob ich die Fleischstruktur gut genug erkennen kann. Am Ende lädt sie mich dazu ein, doch mal zu kosten, ihre Sicht der Dinge ist ihr also immerhin 1,50 Euro wert.
Die andere Bergseite führt nach Bad Frankenhausen hinunter. In der Stadt verlasse ich die Bundesstraße Richtung Panorama-Museum, das mir vom Schlachtberg aus schon entgegenblinkt.
BAD FRANKENHAUSEN, PANORAMA-MUSEUM
12:25 Uhr, 323 km
Die exakte Rundheit des Gebäudes erinnert sofort daran, dass es nur für eine einzige Leinwand gebaut wurde, Werner Tübkes »Frühbürgerliche Revolution in Deutschland«, das Bauernkriegspanorama. Das Ölgemälde ist 14 Meter hoch und 123 Meter lang, eine Farben- und Figurenflut ohne Anfang und Ende, eine Erfüllung für jeden Maler: Bei kleineren Formaten hat sich Tübke angeblich immer wieder darüber geärgert, dass er mit dem Pinsel zu schnell an den Rand gelangte.
Irgendwo in der Umgebung des heutigen Museums hatte Thomas Müntzer die Bauern zum letzten Mal mit seinem messerscharfen Frühneuhochdeutsch berauscht, unmittelbar vor der Schlacht des 15. Mai 1525. Nachdem die vereinigten Fürstenheere die Aufständischen fast vollständig niedergemacht hatten, war Müntzer gefangen genommen, gefoltert und ein paar Tage später vor den Mauern Mühlhausens enthauptet worden. Über vier Jahrhunderte später wurde er dann im Zuge der Müntzer-Verehrung der DDR außer auf dem Fünfmarkschein auch zweimal offiziell mit auf Tübkes Gemälde abgebildet. Er steht vor dem ruinösen Turm von Babel, wo er seiner Gemeinde predigt, und dann noch einmal deutlich herausgehoben im Mittelpunkt des Schlachtengetümmels unter dem Regenbogen. Aber auch eine Gestalt hinter dem schwebenden blauen Fisch spielt auf Müntzer an, auf den dreihundert Jahre alten und immer noch sehr schön anzusehenden Müntzer-Stich von Romeyn de Hooghe. Allerdings fehlt der Figur schon der Kopf, der vielleicht nur vom Rumpf des Fisches verdeckt wird, vielleicht aber auch schon ab ist.
Im Museum selber herrscht oft eine Stimmung wie auf einer Verkaufsveranstaltung, mikrofonbewehrte Museumsführer spulen ihre eingefahrenen Texte ab. Das kann ich mir heute schenken. Das riesige Wimmelbild ist ansonsten prinzipiell gut für einen Familienausflug geeignet. Die Kleinsten spielen dann oft stundenlang »Ich sehe was, was du nicht siehst, und das ist« – zum Beispiel ›braun‹. Die Suchzeit verlängert sich signifikant, wenn man damit die Farbe der Schnürsenkel von einer der über 3.000 dargestellten Figuren im Sinn hat.
Eine Horst-Janssen-Ausstellung im Durchgang zum Rundgemälde wurde gerade abmontiert, da ist auch nichts zu holen. Ich gehe also zielgerichtet ins Museumscafé, das »Café P.«, und durchsuche die Speisekarte. Vor Jahren hatte ich darin die Verse eines unbekannten Dichters entdeckt, die damals auch auf der Website des Cafés prangten:
Seien Sie herzlich willkommen im »Café P.« des Panorama Museums.
Vor oder nach dem Besuch des Panorama Museums sind Sie gern bei uns gesehen.
Kaffee, Kuchen oder Eis – gibt es schnell auf Ihr Geheiß.
Wollen Sie »gut« essen – ist das nicht »Vermessen«.
Ein gutes Essen braucht natürlich »seine Zeit«.
Deshalb ein gut gemeinter Rat – haben Sie für »Ihr« Essen einfach etwas Zeit.
Sollte es »sehr schnell« gehen – dann wählen Sie für »schnell« – bedächtig aus,
dann wird auch »da was« draus.
Die regionale Thüringer Küche – das ist unser Metier.
Ihr kleines Team vom »Café P.«
Diese Gelegenheitslyrik ist das beste schlechte Gedicht aller Zeiten. Neben dem absolut mysteriösen Gebrauch der Anführungszeichen irritiert besonders der abenteuerliche Versmaßecocktail. Auch sonst wurde wirklich alles falsch gemacht, was in zehn Zeilen falsch gemacht werden kann. Das Gedicht ist so systematisch misslungen, dass es schon wieder den Charme ernst gemeinter naiver Kunst verströmt, wie zum Beispiel auch die Bilder von Henri Rousseau, der ja nicht ohne Grund von Picasso & Friends gnadenlos verkultet wurde.
Vor einigen Jahren habe ich eine vollständige Interpretation des Gedichtes veröffentlicht. Kurze Zeit später ist es dann leider von der Website verschwunden und mittlerweile offenbar auch aus der Speisekarte. Eine Schande.
Über die Landstraße nach Westen sind es 20 Kilometer bis nach Sondershausen. Unterwegs gibt es in Rottleben einen Hinweis auf die Barbarossahöhle, die ›größte touristisch erschlossene Anhydrit-Gips-Höhle Europas‹, aber an diesem schön formulierten Superlativ kann ich heute nur vorbeifahren. Links und rechts frühherbstliche Felder, darüber ein paar Wolkenzitate aus verwitterten Schlachtengemälden.
SONDERSHAUSEN
13:14 Uhr, 347 km
Die Alexander-Puschkin-Promenade führt hinein in die Innenstadt, und eine thüringische Kleinstadt, die einer prominenten Straße so einen Namen gegeben hat, kann kein schlechter Ort sein. Sondershausen hat aber auch einen eigenen Großautor. Ich parke vor der Trinitatiskirche und renne Richtung Wezelstraße.
Auf dem Schild ist der Straßenname in stilisierter Fraktur geschrieben, sicher ein Versuch der zuständigen städtischen Behörde, authentischer, mittelalterlicher, touristischer zu wirken. Hier stand Wezels Sterbehaus, jetzt repräsentiert durch eine metallene Stele mit Bild und Text.
Außer der Wezelstraße und der Wezelstele gibt es in der Umgebung noch ein Wezelcafé, eine Wezelpassage, eine Wezelbibliothek, einen Wezelgedenkstein und einen Wezelwanderweg.
Johann Karl Wezel ist in Sondershausen geboren und gestorben. 1747 und 1817. Verdoppelungen und Verdreifachungen gibt es auch in seinen Romanen, zum Beispiel in seinem besten, »Belphegor oder Die wahrscheinlichste Geschichte unter der Sonne« aus dem Jahr 1776. Darin schießt Wezel noch einmal eine volle Breitseite gegen die Theodizee, das Pech der Figuren multipliziert sich immer weiter, dagegen ist Hiob noch gut weggekommen.
Arno Schmidt hat für das 18. Jahrhundert mal drei Bücher »des ehrwürdigsten Gott-, Welt- und Menschenhasses« aufgezählt: Swifts »Gulliver«, Voltaires »Candide« und eben: Wezels »Belphegor«. In dem zugehörigen Radioessay, »Belphegor oder Wie ich euch hasse«, feiert und zitiert er zum Beispiel die fiktive Ansprache Alexanders des Großen, die Fromal im 4. Buch des 1. Teils stellvertretend für den Makedonier hält. Also: Er, Alexander, könne seinen Ruhm schon auch irgendwie durch Wohltaten festigen, aber das werde immer so schnell wieder vergessen. Deshalb wolle er seinen Ruf lieber durch »quäle würge morde verheere« festigen. »Alles das kann ich mir und andern Leuten aber nicht so geradezu sagen: wir müssen also das Ding ein wenig übertünchen.« Seine Mitstreiter haben übrigens natürlich auch gar nichts davon, wenn sie für ihn ihr Leben riskieren, höchstens noch »die Ehre, tausende von euern Nebenmenschen umgebracht zu haben«. Aber er werde schon oft genug von Heldenmut sprechen, damit klar ist, »daß ihr Eure Köpfe nicht zu lieb haben sollt« und so weiter. Und bitte den Kindern weitersagen.
Dieser fröhliche Pazifismus klingt heute etwas sehr didaktisch, ist aber trotzdem gut ausgedacht und hätte in einem Handbuch leider nicht gehaltener historischer Reden einen zentralen Platz verdient. Andererseits ist der Roman vor allem ein Vehikel der Spätaufklärung, der Dutzende Szenen mit genau derselben Aussagerichtung enthält.
Ich laufe noch ein bisschen zwischen den dreistöckigen Plattenbauten der Wezelstraße herum, betrachte noch für einige Sekunden die Kirchturmuhr und fahre dann über Kelbra und Roßla wieder zurück nach Sachsen-Anhalt und zur letzten Autobahnausfahrt.
RASTPLATZ »GOLDENE AUE«
14:00 Uhr, 373 km
Nach ein paar Metern verlasse ich die Strecke gleich wieder, um kurz auf der idyllischsten Autobahnraststätte der Welt anzuhalten. Bei der Ausrichtung SSO hat man über Wald und Wiesen hinweg einen freien Blick auf den Kyffhäuser. Dort 15 Minuten zu rasten ist wie eine Woche Wandern in der Lüneburger Heide.
An der für Stolberg zuständigen Autobahnabfahrt wird man erst noch mal auf die andere Seite geworfen. In Berga geht es dann rechts ab in die richtige Richtung. Über mir schwebt die Thyratalbrücke, mit über einem Kilometer die längste der A38. Auf der Landstraße Richtung Norden durchquere ich zwei Dörfer, bis kurz vor Stolberg der Harz beginnt.
Der Harz ist der Weltöffentlichkeit ja vor allem als Drogenanbaugebiet bekannt. In Tarantinos »Pulp Fiction« verkauft der Dealer und Bademantelträger Lance nämlich sein bestes und teuerstes Heroin mit den Worten: »That is Choco from the Harz Mountains of Germany. ... When you shoot it, you will know where that extra money went. ... This one's a fucking madman!«
Soweit der Mythos. Links und rechts der Fahrbahn echter Wald und echte Berge.
Der Fachwerkwahnsinn von Stolberg. Die Häuser ähneln sich in ihrer gelangweilten Idylle, komischerweise drängt sich ein Vergleich zum Plattengebirge von Halle-Neustadt auf.
Wo ist das Wohnhaus von Johann Gottfried Schnabel? Ich dachte, ich müsste nur in Stolberg einfahren und die Gedenktafel würde mich sofort anblinken. Erst mal sehe ich links das Thomas-Müntzer-Geburtshaus, das zwar nicht mehr selber dort steht. Auf einer rustikalen hölzernen Gedenktafel, die Gemütlichkeit ausstrahlt, wird aber an den »rev. Bauernführer« erinnert. Die Idee, »revolutionär« mit »rev.« so radikal abzukürzen, ist hervorragend und ein schönes Beispiel für die Bürokratisierung von Revolutionen.
Am Markt steht dann ein richtiges Denkmal für den Sohn der Stadt, ein Ensemble mit zwei hintereinander stehenden Figuren und vier rahmenden Stelen. Der fast schwebende Frontmann mit Topfhaarschnitt wird Thomas Müntzer sein. Sein Rücken ist entblößt: Mit so einer gigantischen Achillesferse, soweit die Aussage des Kunstwerks, ist man zum Opfersein verdammt. Hinter Müntzer steht dann auch kein bäuerlicher Mitstreiter, sondern ein vermummtes Etwas, das sehr unsympathisch wirkt und Müntzer wahrscheinlich irgendwann an den wehrlosen Rücken will. Ich laufe zweimal um das Ensemble herum, finde aber keine Informationstafel. Wie gut, dass schräg dahinter die Touristeninformation geöffnet hat.
»Ja, Infoschild gibt es nicht, der Künstler wollte das nicht«, sagt eine Stadtführerin und verrät mir trotzdem seinen Namen, den ich aber sicher nicht direkt weitergeben darf. Es ist erstaunlicherweise derselbe Künstler, der zehn Jahre später auch die drei Nietzsche-Figuren in Röcken aufstellen durfte.
Eingeweiht wurde das Denkmal zu Ehren des »rev. Bauernführers« zum 500. Müntzer-Geburtstag noch im Wendejahr 1989, und abreißen wollte es danach offenbar auch keiner mehr.
Im Flur der Auskunftsstelle entdecke ich noch einen Tisch mit aussortierten Büchern. Ich blättere in einem zerlesenen Theodor-Storm-Band, der auch den »Pole Poppenspäler« enthält. Ich nehme ihn als eine Art Reiseführer für Heiligenstadt mit. Im Buch ganz vorn klebt der typische Schreibmaschinen-Waschzettel einer DDR-Bibliothek. Ganz hinten ist ein weiteres Blatt angebracht, das die Stempel der Ausleihhistorie enthält. Das Buch wurde zuletzt im Juni 1984 entliehen.
Das Schnabel-Haus ist übrigens gleich um die Ecke, wie alles in Stolberg. Ich biege vor dem Gasthaus Kupfer links in die Schlossbergstraße ein. Die Auffahrt ist so schmal wie die Todesstraße nach Coroico im bolivianischen Dschungel. Einige Touristen versperren mir kopfschüttelnd den Weg und versuchen mir offenbar Verbesserungsvorschläge zum autofreien Verhalten an Feiertagen zu geben, die ich aber wegen des krachenden Motors nicht genau verstehe.
Als ich vor dem Schnabel-Haus halte, Am Schlossberg 5, umringen neue Leute vorwurfsvoll das Auto. Ihr Uneinverstandensein wandelt sich aber schnell, als ich mich dezidiert zu der Gedenktafel durchdränge. Plötzlich interessieren sich alle Umstehenden auch für den angebrachten Hinweistext:
»In diesem Haus des gräflichen Hofbuchdruckers Erhardt wohnte der bedeutende Schriftsteller der Frühaufklärung JOHANN GOTTFRIED SCHNABEL während seines Wirkens in den Jahren 1724–1744 in Stolberg/Harz. Sein weiterer Verbleib ist unbekannt.«
Hier (oder woanders) hat Schnabel die von Tieck später so genannte »Insel Felsenburg« geschrieben, die »Wunderliche Fata einiger See-Fahrer«, die zwischen 1731 und 1743 in vier Bänden erschienen ist. Sie ist nicht nur eine der zahllosen »Robinson Crusoe«-Reprisen, sondern eine immer noch sehr lustig zu lesende Sozialparodie mit vielen biografischen Miniaturen, die stark an eine andere Großrobinsonade erinnern, an die TV-Superserie »Lost« mit ihren episodenweisen Flashbacks. Schnabel gehört wie Wezel zum Gegenkanon von Arno Schmidt, auch über ihn gibt es einen dieser schnell weggesprochenen Radioessays. Die A38 könnte mit einigem Recht also auch »Arno Schmidts Gegenkanon-Autobahn« heißen.
Neben mir steht ein Anwohner samt Hund und fragt, ob ich mich für das Haus interessiere. Seine Frau sei darin aufgewachsen. »Wir wussten das ja damals alles nicht. Das mit dem Johann Wolfgang Schnabel. Das haben sie uns erst nach der Wende erzählt.«
Ich erlebe zum ersten Mal, dass die Rechtfertigungssprache der NS- und DDR-Aufarbeitung auch für Dinge aus dem 18. Jahrhundert benutzt wird. Am Ende hat er natürlich Recht: Weil keiner keinem was erzählt zu haben scheint, hat auch keiner weitergetragen, was aus Schnabel geworden ist. Man weiß lediglich, dass er vor 1760 gestorben sein muss. Weitere Informationen über den Verbleib des Genannten werden händeringend gesucht, bitte bei der Schnabel-Gesellschaft melden, Neustadt 12 in 06547 Stolberg.
Wie eben in Sangerhausen verweist mich der Anwohner gleich weiter an die nächste Sehenswürdigkeit: »Haben Sie schon unsere Juliana gesehen?« Links neben dem Haus führt eine Treppe zum Schloss hinauf. Vor den letzten Stufen steht in Denkmalsform ein junges Mädchen, Juliana zu Stolberg, die 1506 auf dem Schloss geboren und dann mit 17 Kindern und mindestens 500 Enkeln und Urenkeln zur Stammmutter des halben europäischen Adels wurde.
Ich umrunde die Statue einmal, das dauert dreieinhalb Sekunden, zu mehr reicht die Zeit nicht, ich kehre zur A38 zurück, und nach der Auffahrtsschleife über Berga fahre ich über die Thyratalbrücke wieder nach Thüringen hinein.
Über die B4 erreiche ich die Dom- und Schnapsstadt, fahre dort dann den Taschenberg hinauf und biege noch ein paar Mal ab, bis ich die Eduard-Baltzer-Straße erreiche.
Baltzers Wohnhaus steht nicht mehr, stattdessen ist der gesamte Straßenzug mit knallbunten dreistöckigen Plattenbauten bestückt. Neben dem Eingang, der dem nicht mehr existierenden Haus am nächsten steht, ist eine Erinnerungstafel angebracht. Wie bei den verschwundenen Geburtshäusern von Seume in Poserna und Müntzer in Stolberg muss hier eine Gedenktafel den Genius loci behaupten. Zusätzlich zum Straßennamen hat Baltzer immerhin auch noch einen nach ihm benannten Brunnen abbekommen, der ein paar Meter von hier entfernt steht.
Eduard Baltzer ist in Nordhausen weder geboren noch gestorben, hat hier aber einige Jahrzehnte lang gelebt, zwischen 1847 und 1881. Er war der erste gewohnheitsmäßige Alternative, ein Jahrhundert vor der Zeit. Wirkungsgeschichtlich ist er zwar ziemlich breit aufgestellt, hat sich aber eher für touristisch nicht so leicht verschlagwortbare Sachen interessiert. Deswegen braucht die Gedenktafel auch ein paar Zeilen, um seine Verdienste aufzuzählen.
Als Theologe und Prediger hat er einer der ersten freireligiösen Gemeinden vorgestanden, in diesem Zusammenhang hat er auch, als Gegenentwurf zur Konfirmation, die Jugendweihe miterfunden. Vielleicht ist er in der DDR deshalb immer noch mal mit erwähnt worden. 1848 war er als Abgeordneter im Frankfurter Vorparlament und in der Preußischen Nationalversammlung für einen Moment so etwas wie ein Politiker, wurde aber nach einer politischen Rede in Ellrich auch Opfer eines spontanen Übergriffs. Sein letzter antibürgerlicher Impuls war ab 1866 die Propagierung des Vegetarianismus. Er verfasste ein vegetarisches Kochbuch, das sich 70 Jahre lang mit über 20 Auflagen auf dem Markt hielt.
Zwischen den grell gefärbten Uniformneubauten der Baltzer-Straße fällt ein Teil der alten Stadtmauer ins Auge, eine Pforte, die auch noch Nachtigallenpforte heißt und direkt in eine idyllische Parkanlage führt. Auf der Außenseite der Mauer ist ein Schild mit einem Luther-Zitat angebracht, mit dem sich Nordhausen selbst zu seiner frühen Lutherbegeisterung beglückwünscht. Der genaue Wortlaut ist nicht so leicht lesbar, denn das Schild scheint auch als Tor Verwendung zu finden und ist übersät mit Abdrücken eines schmutzigen Fußballs.
Beim Verlassen des Baltzer-Viertels sehe ich noch ein Hinweisschild mit der Aufschrift »Altstadt« und gleich dahinter die Zipfel der Blasii-Kirche und des Doms, ich fahre aber weiter die B4 hinauf Richtung Mittelbau-Dora.
MITTELBAU-DORA
16:06 Uhr, 434 km
Nachdem Peenemünde auf Usedom im August 1943 bombardiert worden war, sollte die Entwicklung und Produktion der V2-Rakete an einen geschützteren Ort verlegt werden. Hier im Kohnstein gab es schon eine geeignete Stollenanlage, die dann umgebaut und vergrößert wurde. Die dabei eingesetzten Zwangsarbeiter mussten anfangs monatelang unter Tage hausen, das Lager Dora außerhalb der Stollen wurde erst im Frühjahr 1944 dazugebaut. Von etwa 60.000 Häftlingen, die das KZ bis Kriegsende durchliefen, starben 20.000. Die Baracken stehen nicht mehr, das Gelände erinnert an die vielen Waldbilder, die Claude Lanzmann um 1980 von den mittlerweile überwachsenen Vernichtungslagern in Polen aufgenommen hat.
Am Rand des für DDR-Zwecke umgestalteten Appellplatzes befindet sich ein ehemaliger SS-Unterstand, der vor der Wende als Isolationszelle für Häftlinge ausgegeben wurde. Die entsprechende Gedenktafel ist noch da, allerdings ergänzt um eine Richtigstellung, die nun daran erinnert, dass hier an etwas nicht Authentisches erinnert wurde.
Rechts neben dem Weg zum Zugangsstollen haben französische Überlebende vor eineinhalb Jahren eine »Barbara-Rose« gepflanzt, als Anspielung auf die Chanteuse Barbara, die mit ihrem unaushaltbar pathetischen Chanson »Göttingen« die deutsch-französische Freundschaft der Neuzeit begründen wollte. Hier ist jetzt allerdings nicht der Ort, den Chanson für unaushaltbar pathetisch zu erklären, aber vielleicht nachher in Göttingen selber.
Ein anderer französischer Text hatte neulich auch etwas mit Mittelbau-Dora zu tun, Jonathan Littells 2006 erschienener Roman »Die Wohlgesinnten«, erzählt aus der Sicht des deutsch-französischen, promovierten und schwulen Juristen, Bildungsmenschen und SS-Offiziers Max Aue. »Dr. Aue war überall, wo was los war«, schrieb Iris Radisch in ihrem Generalverriss des Buches, und so muss er ab Seite 1032 auch eine Besichtigungstour in den Mittelbau-Stollen absolvieren, im Dezember 1943, gemeinsam mit Albert Speer.
Im Rahmen einer Führung kann man sich heutzutage übrigens die Querstollen 44 bis 46 ansehen. Man sollte sich dabei allerdings immer auf ein paar technikbegeisterte Idioten gefasst machen, die an den Umständen vorbei von der V2 schwärmen und sehr kühne Spekulationen über geheime Vorgänge im heute unzugänglichen Rest der Anlage anstellen.
Direkt am Lager vorbei führt der historische Kaiserweg von Bad Harzburg nach Tilleda. Die HRR-Kaiser haben ihn zur Flucht benutzt oder zum Truppentransport über den Harz. Der Weg ist leider auch nach über tausend Jahren noch nicht gepflastert, also fahre ich die bekannte Strecke zurück zur Autobahn. Dabei fallen mir noch Thomas Pynchons »Enden der Parabel« ein, die auch ein bisschen in Mittelbau-Dora spielen, aber ich kann mich kaum mehr an dieses Jugendbuch erinnern.
Bei Bleicherode wird man dann wieder von der A38 heruntergeführt, die fehlenden 13 Kilometer sollen erst Ende 2009 fertig sein. Die im Moment noch obligatorische Abfahrt kündigt unter anderem das Ziel Mühlhausen an, die letzte Station Thomas Müntzers, aber die berühmte Hinrichtungsstadt liegt mehr als 30 Kilometer von der Autobahn entfernt, für heute zu weit weg.
In Bleicherode wurde 1822 der Geograf August Petermann geboren, den ich vor allem kenne, weil er in einigen Jules-Verne-Romanen vorkommt. In »5 Wochen im Ballon« (1863) und in der »Reise zum Mittelpunkt der Erde« (1864) ist er der behauptete gute Brieffreund der Abenteurer.
Petermann saß von 1847 bis 1854 in London, danach in der Geografiesuperstadt Gotha, wo er die Zeitschrift »Petermanns Geographische Mitteilungen« gründete, die noch bis 2004 erschienen ist. Hier wurden die Entdeckungen des 19. und 20. Jahrhunderts protokolliert und die Weltkarte nach und nach vervollständigt. Karl May hat die Hefte gern als Inspirationsquelle für seine Romane benutzt. Petermann setzte sich vor allem für Expeditionen in die Polargebiete ein, auf dass die Theorie vom eisfreien Nordpolarmeer bewiesen werde. Nach ihm sind ein Fjord, ein Fjell, ein paar Gebirgszüge, ein Gipfel, zwei Kaps, eine Insel und zu guter Letzt noch ein Mondkrater benannt.
In Bleicherode tragen natürlich auch ein paar Dinge Petermanns Namen, und in einer kleinen Parkanlage an der Barbarastraße hat man für ihn einen Mini-Obelisken mit Reliefbild aufgestellt. Er wurde gerade saniert und glänzt jetzt in der Abendsonne. Irgendwo in Bleicherode steht auch noch Petermanns Geburtshaus, aber dafür reicht die Zeit nicht. Stattdessen fahre ich kurz an eine Tankstelle und dann sofort weiter nach Obergebra und auf die B80, vorbei an ein paar Schrebergärten, dann über Sollstedt und Wülfingerrode und über ein paar Bahnschienen nach Bernterode-Schacht und dort durch eine zukünftige A38-Brücke und vor Breitenworbis wieder auf die Autobahn. Nach der Abfahrt Leinefelde nehme ich die B247, biege dann aber gleich Richtung Südstadt ab.
Im Rahmen des Eichsfeldplans vom Ende der Fünfzigerjahre wurde in Leinefelde Industrie angesiedelt, um das Grenzgebiet der DDR wirtschaftlich zu beleben. Die zuziehende Bevölkerung wurde in schnell hochgezogenen Plattenbauten untergebracht, die Einwohnerzahl stieg rasch von 2.500 auf 16.500, die Stadt wuchs in zeitlichen Staffelungen immer weiter nach Süden. Mit ein paar Rechtsschwenks entlang der Birkunger Straße kann man die Geschichte des DDR-Plattenbaus nun schön chronologisch abfahren. Denn obwohl das Stadtviertel inzwischen größtenteils saniert und umgestaltet wurde, schimmern die Ursprungsbauten noch durch.
Es beginnt in der Geschwister-Scholl-Straße, mit ein paar dreistöckigen Häusern vom Typ Q6, die 1963 errichtet wurden und reaktionärerweise noch Satteldächer haben durften. In der Konrad-Martin-Straße folgen ein paar Reihen vom Typ L4 aus den Jahren 1964 bis 1966. Weiter südlich, in der Käthe-Kollwitz- und der Lilo-Hermann-Straße, stehen Gebäude vom Typ 5 Mp aus dem Jahr 1969.
Dann folgt schon das Physikerviertel, das zwischen 1970 und 1974 mit Häusern der klassischen WBS 70 bestückt wurde. Andere Exemplare davon bzw. darauf basierende Weiterentwicklungen wie die WBR 82 gibt es im zwischen 1978 und 1982 entstandenen Musikerviertel und dem westlich daran anschließenden Dichterviertel, an dem noch bis 1989 gebaut wurde.
All das wird auch in der schon vorhin in Halle-Neustadt erwähnten Dissertation von Peter Richter beschrieben. In seiner Fallstudie untersucht er dann die Umgestaltung von Leinefelde-Süd, die so gelungen ist, dass der Kritiker Kaye Geipel überschwänglich ausrief: »Architekten, kommt nach Leinefelde und seht euch diese Sanierung an.«
1996 war ein Architekturwettbewerb ausgeschrieben worden, der nach Lösungsvorschlägen für das Physikerquartier und das Dichterviertel verlangte. Am Ende wurden zwei Architekten ausgewählt: Muck Petzet fielen die Physiker zu, Stefan Forster die Dichter. Und während Petzet bei der Umsetzung versucht hat, das sozialistische Erbe mitzudenken und einige Gemeinschaftseffekte zu verbauen, hat Forster sein Viertel auf eine Privatisierung des Geländes hin saniert. Aus einem 180 Meter langen Plattenbauriegel hat er zum Beispiel acht Stadtvillen herausgeschält, die mit ihren Gartentoranlagen wie eine Gated Community wirken.
Im nicht preisgekrönten Musikerviertel gibt es übrigens einen sonderbaren Block in der Beethovenstraße. Er wurde 1996 von einem Gummersbacher Zwischenerwerber saniert, der offenbar ganz nebenbei einem bestimmten Bildungsauftrag nachkommen wollte, auch wenn ihm den niemand erteilt hatte. Die Eingänge ließ er mit billigen Betonsäulen und neoklassizistischen Giebelvorbauten rahmen, in denen comicartige Porträtreliefs von Liszt, Bach, Mozart und Händel prangen. An eine fensterlose Seitenwand des Gebäudes wurde ein riesiges Beethovengesicht gemalt. »Das ist ein kultureller Entwicklungsbeitrag«, hat der Sanierer damals dem »Spiegel« gesagt. »Die Leute hier wissen doch gar nicht, wie diese Komponisten eigentlich aussehen und wann sie geboren und gestorben sind.« Diese brachialdidaktische Staffierung muss man gesehen haben.
Ich fahre noch schnell zum Bonifatiusplatz, um mir kurz die schon 1988 begonnene und 1993 geweihte katholische Kirche anzusehen. In deren Rückwand ist ein oktogonales Rosenfenster eingewirkt, das schon nach außen hin einen völlig unerwarteten Akzent setzt. Im Inneren der Kirche herrscht dann auf den ersten Blick eine majestätische Leere und Übersichtlichkeit, aber allein die kunsthistorische Analyse aller Fensterdarstellungen würde Tage dauern. Ich beschränke mich auf eine Heiligenstatue, einen gleichmütig blickenden Bonifatius, der in der rechten Hand eine der großartigsten Insignien der Märtyrerwelt hält, das feindliche Schwert, auf das ein Evangelienbuch gespießt ist.
Über die B247 fahre ich außen um Leinefelde-Süd herum und wechsle auf das gegenüberliegende Ufer der A38. Dort liegt Worbis, wo es einen Alternativen Bärenpark gibt, in dem die Gehege so weitläufig sind, dass man Stunden verbringen kann, ohne ein echtes Tatzentier zu sehen. Aber oft sind ja auch die Gattungsnamen auf den Plastikschildern schon interessant genug.
Ich fahre die Bundesstraße weiter bis nach Teistungen und halte nach dem Ortsausgang am ehemaligen Zollverwaltungsgebäude, das heute ein Museum ist.
TEISTUNGEN, GRENZLANDMUSEUM EICHSFELD
18:05 Uhr, 512 km
Das Museum selber ist bereits geschlossen, zum Komplex gehört aber auch die ehemalige Grenzanlage, und bis zum DDR-Grenzstein ist es nicht weit. Oder doch, ein paar Kilometer, und ich laufe auf dem Kolonnenweg einem fehlerlosen Abendrot entgegen. Literaturgeschichtlich war dieser Effekt ja lange wegen des Kitschvorwurfs tabuisiert, aber dann hat Rainald Goetz vor einigen Jahren in »Dekonspiratione« das Sprichwort »Abendrot – Schönwetterbot« reaktiviert und damit dem Effekt wieder zur Äußerbarkeit verholfen.
Nichtsdestotrotz wird mein Spurt zum Abspann eines schwülstigen Wendefilms. Die Grenze ist museal abgesichert, überall stehen Informationsschilder, die auf vergangene Funktionalitäten hinweisen. Oben laufe ich kurz am Grenzstein vorbei, hallo Niedersachsen, bis gleich, und während um 18:44 Uhr offiziell die Sonne untergeht, haste ich bergab zurück zum Auto und fahre dann wieder zur A38 und weiter bis zur Abfahrt Heiligenstadt.
HEILIGENSTADT
19:16 Uhr, 545 km
Ich halte irgendwo in der Nähe der Marienkirche. Bis zur Wilhelmstraße 73 ist es dann nicht weit. Dort, wo heute Unterhaltungselektronik verkauft wird, wohnte Theodor Storm die längste Zeit während seiner mitteldeutschen Jahre.
Der Ort ist ein Höhepunkt biografischer Werkauffassung. Im Januar 1864, kurz vor seiner Abreise aus Heiligenstadt, beobachtete Storm am gegenüberliegenden Stadtgefängnis eine Szene, die er später in den »Pole Poppenspäler« eingebaut hat: Eine junge Frau mit zwei Kindern will sich mit ihrem zu Unrecht des Diebstahls verdächtigten Mann zusammensperren lassen, wird aber abgewiesen und irrt nun in der Eiseskälte umher. Wie die Meisterin des Gesellen Paul Paulsen holen die Storms das arme Ding zu sich herein und händigen ihr ein leckeres Heißgetränk aus. Es interessiert mich jetzt kurz, was das genau war, wie gut, dass ich vorhin in Stolberg den Erzählungsband mitgenommen habe. Es handelt sich um »eine dampfende Tasse Kaffee«, und diese ruft sofort Erinnerungen an den Anti-Nietzsche-Espresso wach, den ich vor 17 Stunden zwischen Lützen und Röcken zu mir genommen habe.
Wegen Storms signifikant langem Aufenthalt in der Stadt wurde 1988 ein Fachwerkhaus am Ende des Boulevards zu einem Storm-Museum umfunktioniert. Der Genius loci hat es hier besonders schwer, denn Storm hatte mit dem Haus wahrscheinlich nicht sehr viel zu tun. Genauso wenig wie Heinrich Heine, dem im Erdgeschoss ein Zimmer abgetreten wurde, das sehr klein ist, weil es nicht viel mehr als die Faksimiles der Taufdokumente auszustellen gibt. Storm hat acht Jahre in Heiligenstadt gelebt, Heine hat sich 1825 in einem Heiligenstädter Pfarrhaus nur einen Tag lang taufen lassen, die Zuständigkeiten des Museums sind also klar verteilt. Und zum Beweis steht vor dem Eingang noch ein bisschen Kunstgewerbe in Form einer Storm-Bronzestatue. Der sympathische kleine Mann hat die rechte Hand leger in der Hosentasche, trägt in der linken standesgemäß ein Buch und überwacht ansonsten mit juristischem Prüfblick die Wilhelmstraße.
Inzwischen ist es richtig düster geworden, aber schon der nahe Heidkopftunnel bringt neues Licht.
HEIDKOPFTUNNEL
19:40 Uhr, 560 km
Jede gute Autobahn hat mindestens einen schönen Tunnel, die A38 hat ihn seit Dezember 2006. Überall scheinen Sicherheitshinweise auf, die Beleuchtung ist angenehm warm, und auf 1,7 Kilometern gibt es eine ganze Armada von Nothaltebuchten, SOS-Telefonen und anderen ausgewiesenen Rettungsmöglichkeiten. Wer sich einmal richtig sicher fühlen will, sollte hier durchfahren.
Nach dem Tunnel beginnt Niedersachsen, die A38 ist dann fast zu Ende. Die Schleife bei meiner letzten Abfahrt Friedland führt mich auf der B27 für ein paar Sekunden nach Hessen, das Ortseingangsschild von Neu-Eichenberg-Marzhausen blinkt kurz auf.
Das geschichtsträchtige Durchgangslager liegt im Ur-Friedland, dem Ortsteil, der schon vor dem 1973 erfolgten Zusammenschluss der umliegenden Gemeinden so hieß. Friedland war 1945 von den Briten ausgewählt worden, weil es günstig im Eck dreier Besatzungszonen lag. Das Lager wurde bis heute in vier verschiedenen Geschichtszusammenhängen besiedelt: mit Vertriebenen aus den Ostgebieten, mit Kriegsheimkehrern, mit DDR-Aussiedlern, mit Spätaussiedlern.
Friedland ist also traditionell ein Symptom deutscher Geschichte des 20. Jahrhunderts. Dort kamen zehn Jahre nach dem Krieg die letzten Zehntausend aus russischer Gefangenschaft an. Speziell die Kriegsheimkehrer hat man übrigens immer mit dem »Choral von Friedland« begrüßt, dem »Nun danket alle Gott!« von Martin Rinckart. Dieses Lied muss einfach verdammt gut sein, denn 200 Jahre davor wurden mit ihm als »Choral von Leuthen« schon die Siege Friedrichs II. gefeiert.
Gesungen wird heute nicht mehr, aber für die Kriegsteilnehmer und prinzipiell auch gleich für alle anderen hat man 1967/68 auf dem Hagenberg ein weithin sichtbares Mahnmal errichtet. Der Weg nach oben ist etwas zu dunkel und ein wenig unheimlich, die Nietzsche-Taschenlampe ist verschwunden. Aber um genau 20:03 Uhr springt die Beleuchtung an. Die zerklüfteten vier Betonarme des Denkmals ragen jeder in seine Himmelsrichtung, und ich versuche, ein paar verblasste Graffitis zu entziffern.
DREIECK DRAMMETAL
20:33 Uhr, 577 km
Die letzten Meter auf der A38. Ich fahre am Drammetal ab und weiter Richtung Hannover. Nach so viel heimeliger Autobahnwelt ist das dreispurige Gedränge auf der A7 sofort ein gutes Kontrastmittel. Nach sieben Kilometern kommt aber schon die Abfahrt Göttingen.
Cortázar und Dunlop hatten ihre Rastplatzexpedition entlang der Autoroute du Soleil unter anderem deshalb gestartet, weil sie die Existenz von Marseille eindeutig nachweisen wollten. Das geht auch mit Göttingen. Seit Heines »Harzreise« ist die Stadt mit ihren Würsten und ihrer Universität ja vor allem Zitat, man muss ihre Existenz also auch mal wieder anders belegen. Nach der Autobahnabfahrt fahre ich auf der B3 noch einmal von der Stadt weg und biege dann nach sieben Kilometern links in die Landstraße nach Bördel ab, wo der Sage nach mehr Pferde als Menschen wohnen.
BÖRDEL, SESEBÜHL
20:53 Uhr, 596 km
Oberhalb von Bördel liegt der Sesebühl, der schon bei den Gauß'schen Landvermessungen eine Rolle gespielt hat. In der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur ist es sogar »der weitaus schönste, aber auch unbesuchteste Ort um Göttingen mit großartiger Fernsicht (der Brocken genau über dem Jakobi-Kirchturm!)«.
Das hat Hans Jürgen von der Wense nach seiner Abwanderung des Messtischblatts Jühnde geschrieben, irgendwann nach 1950. Und Wense hat Recht. Noch während der Motor die Waldruhe stört, glittert Göttingen in der Ferne klar und deutlich vor sich hin. Ich lasse das Auto stehen und gehe noch ein Stück weiter in die Einsamkeit, all meine Caspar-David-Friedrich-Assoziationen werden aber ganz plötzlich zerhauen durch das Eingangsschild eines FKK-Zeltplatzes, dem Sport- und Freizeitpark Bördel. Das Gelände gab es bei Wense noch nicht, es wurde erst nach seinem Tod 1966 angelegt. Und mit einem Dorf nackter Menschen im Rücken schaue ich nun auf die gleißende Stadt, nach Osten, also doch: ex oriente lux.
Ich kenne Wenses Bericht aus einer alten Ausgabe der inzwischen eingestellten Matthes-&-Seitz-Zeitschrift »Der Pfahl«. Erst vor ein paar Jahren wurde Wenses gigantischer Nachlass, 30.000 beidseitig beschriebene Blätter, dazu 40 Tagebücher und tausende Briefe, teilweise veröffentlicht. Hier bei Göttingen endet mein heutiges Interessengebiet. Wenses hat hier begonnen. Wegen der Bibliothek war er 1940 von Kassel nach Göttingen umgezogen. Von dort aus hat er dann über Jahrzehnte seine Wanderungen in das Gebiet bis Eschwege und Paderborn fortgesetzt und sich über das Reiseverhalten seiner massentouristischen Zeitgenossen belustigt: »ich kenne Leute, die zum Nationalfeiertag der Franzosen nach Paris fahren, aber noch nie in Goslar waren, von wo aus einst halb Europa beherrscht wurde bis Sizilien hin!«
Vom Uni-Parkplatz gehe ich auf das nicht mehr existierende, aber immer noch so heißende Weender Tor zu. Hier hat Heine beim Verlassen der Stadt im September 1824 einen Göttinger Jungen zu seinem Freund sagen hören: »Mit dem Theodor will ich gar nicht mehr umgehen, er ist ein Lumpenkerl, denn gestern wusste er nicht mal wie der Genitiv von Mensa heißt.« Heine will den Satz am liebsten gleich als Stadtmotto auf das Tor setzen lassen.
So triftig wie Heine Göttingen verlässt, so muss man heute eventuell erst mal vor Heine fliehen. In sehr jungen Jahren habe ich mir in einer Stadtbibliothek »Deutschland, ein Wintermärchen« ausgeliehen. In dem zerlederten Heft hatte irgendjemand alle, wirklich alle Stellen angestrichen, an denen auch nur ansatzweise irgendwelche teutschen Unarten gegeißelt wurden. Kaum eine Zeile war ausgelassen, und ich war bestürzt: Das also war Heine, ein kleingeistiger Anprangerer mit Stellenanstreichern als Zielgruppe? Ich brauchte Jahre, bis ich die Übermacht beamtischer Heine-Gutfinder ignorieren konnte.
Ich laufe an der Jacobikirche vorbei und denke an den Barbara-Chanson. In Göttingen gebe es zwar keine Seine und leider auch keinen Bois de Vincennes, aber es gebe doch so superschöne Rosen wie nirgends sonst auf der Welt. Soweit der Liedtext. Vergessen wurde dabei aber mindestens noch die Konditorei »Cron & Lanz«. Die Torten, das Ambiente, die Kundschaft hätten Stoff für hundert Thomas-Mann-Romane abgegeben. Walter Kempowski war hier in den Fünfzigerjahren öfters zu Gast und hat das auch pflichtbewusst in seinem Romanzyklus erwähnt.
Am Nebenhaus fällt mir eine Gedenktafel ins Auge, die daran erinnert, dass im Wintersemester 1789 Alexander von Humboldt hier untergebracht war, bei einem Metzgermeister. Wie bei Göttinger Häusern üblich prangen an derselben Fassade aber gleich noch drei weitere Tafeln mit Namen bekannter Mieter aus dem 18. und 19. Jahrhundert, wie Klingelschilder ohne Klingel.
An der Bar im »Esprit« in der Langen Geismarstraße bestelle ich einige Tassen Kaffee und mache mich dann gegen 22:15 Uhr auf den Rückweg, diesmal ohne Nebenwege, das Licht aus Leuna als Leitstern.
4. OKTOBER 2008
LEIPZIG, »TELEGRAPH«
01:01 Uhr, 864 km
Die Südlich-vom-Harz-Reise endet wieder im »Telegraph«. Die Freunde sitzen dort genau wie vor 24 Stunden, und ich gehe hinüber, lege den GPS-Empfänger auf den Tisch und bestelle eine Runde Serons de Salvanette.
*
David Woodard
Autobahn 38, Ruta XI, Route 66
Heute, am 22. Dezember 2009, hat die Bundesrepublik Deutschland den Bau der Autobahn 38 abgeschlossen. Die Eröffnung des letzten fehlenden Teilstücks hier am Höllbergtunnel weckt Erinnerungen an den März dieses Jahres, als die Republik Paraguay die Asphaltierung der Ruta XI beendet hat, die das Dschungeldorf Nueva Germania nun endlich besser mit der Provinzhauptstadt und dem restlichen Umland verbindet. In fahrbahnloser Vorzeit waren Verkehrsteilnehmer an regnerischen Tagen auf beiden Strecken bedeutend höherer Gefahr ausgesetzt, revolverschwingenden Straßenräubern zu begegnen.
Ich hatte die Ehre, zwei der initialen Nachtkapitel der »Südharzreise«, die auf den vorangegangenen Seiten beschrieben wurde, unter den Auspizien des Autors Frank Fischer noch einmal bei Tageslicht zu befahren. Dies geschah im November 2008, kurz nachdem ich von einem sechsmonatigen Aufenthalt im mystischen Asien nach Deutschland zurückgekehrt war. Lassen Sie uns doch zusammen einige meiner Autobahn-38-Assoziationen wachrufen.
Leipzig kam ins Spiel, weil ich die Stätten besuchen wollte, an denen Bach Thomaskantor und Wagner geboren worden war. Als ich im geweißelten Heim meines Übersetzers Jonas Obleser im nüchternen Max-Planck-Revier eintreffe, zeigt mir Mr. Fischer den Crossover-Kurzfilm »Autobahn 38«, der ein paar Tage nach der Originalreise entstanden ist.
Etwas später finden wir uns mit Milchkaffees-to-go in der Hand vor der bewegenden Thomaskirche, wo auf Bachs gut erhaltener Orgel Messiaen gegeben wird, und passieren sodann ein riesiges Wagner-Poster. Es ist an der Außenwand eines Einkaufszentrums angebracht, die in den Luftraum ragt, der einst das Geburtshaus Wagners umgab. Dessen jugendlich-arrogantes Antlitz kräuselt sich im Wind und überschaut so halb himmelwärts eine größere Leipziger Kreuzung.
Dann rauschen wir die A38 hinunter nach Röcken und besuchen in dem kleinen Dorf die Gräber von Friedrich Nietzsche, seiner Schwester Elisabeth und seiner Mutter Franziska. Nicht zu vergessen Friedrichs Vater, Carl Ludwig, den langjährigen Pfarrer einer in ihrer Bescheidenheit beeindruckenden lutherischen Kirche, an deren Seite sich die Gräber der Nietzsches erhalten haben.
Das Grab des Vaters findet man dort in Einheit mit dem von Friedrichs jüngerem Bruder Joseph, der bereits zwei Jahre nach seiner Geburt starb. Beider Grabstein ist ungepflegt und teilweise von Unkraut verschleiert, von Dreck und dem ein oder anderen verirrten Regenwurm. Nietzsches Vater verschied dank seiner sich selbst marinierenden Gehirnrinde, als Nietzsche im Kindergartenalter war. Sowohl auf Wagner als auch auf Nietzsche musste es wie eine nukleopatriphobische Gegebenheit wirken, dass ihnen von ihrem biologischen Vater nur spärliche Überreste blieben.
»Und alle, die es hörten, nahmen's zu Herzen und sprachen: Was, meinst du, will aus diesem Kindlein werden? Denn die Hand des Herrn war mit ihm.« – Carl Ludwig Nietzsche aus Lukas 1,66 zitierend, bei der Taufe des neun Tage alten Friedrich Nietzsche, 24. Oktober 1844
Die Sonne geht unter, wir eilen fünf Kilometer weiter nach Lützen, eine Kleinstadt, die ihrer Bewohner und Autos verlustig gegangen ist, aber mit gemähten Rasen und beschaulicher Ruhe strahlt. Wir parken und spazieren zu jener Stelle, an der im November 1632 das Leben des messianischen Schwedenkönigs Gustav II. Adolf ins Reich der himmlischen Gnade abgegeben wurde, durch 20.000 katholische Soldaten, von denen einer die vergebenden Hände des einstigen Herrschers durchlöcherte.
Während wir uns über Pilgerfahrten zu Elisabeth Nietzsches Nueva Germania unterhalten, die bis vor Kurzem noch über Paraguays eben jene halsbrecherisch unbefestigte Ruta XI führten, nehmen wir die A38 zurück nach Leipzig. Die letzten Meter der »Südharzreise« finden auf dem Armaturenbrett des schiefergrauen oder immergrünen (abhängig von den Launen der Sonne) Geländewagens noch einmal statt.
Nach der Lektüre der 38 Kapitel erinnert die Autobahn sofort an die legendäre Route 66, die schon etwas länger für ihren Reichtum an Marksteinen geliebt wird, an denen wegweisende Ereignisse ihren Ausdruck fanden: Jesse James hat sich hier versteckt, das erste McDonald's tauchte hier auf, und John Steinbeck gab dem Highway liebevoll seinen ewigen Spitznamen, »The Mother Road«, in seinem Roman über die Große Depression, »Früchte des Zorns«.
An einer staubigen Kreuzung in Gallup, New Mexico, entsprang der historischen Route 66 die Route 666, eine als sechster Abzweig entlang der Mother Road korrekt benannte Strecke. An dieser Kreuzung aß ich an einem Dezembertag 1996 mit John Aes-Nihil in einer riesigen Furr's Cafeteria zu Mittag. Wir kamen aus dem örtlichen Blockhüttenmotel um 11:55 Uhr an, doch die Äsungsstätte in Gallup öffnete erst um 12 Uhr. Innerhalb dieser fünf Minuten versammelten sich eifrig einige andere Mitspeisewillige in der mit Auslegeware versehenen Wartezone zwischen den beiden Glastüren, anscheinend gewohnheitsmäßig.
Das Essen schmeckte uns, es gab Hühnchen, in Soße ertränktes Kartoffelpüree, Mais, geschmorten Spinat, halbierte Birnen in einer süßen Soße eingelegt, mit Butter bestrichenes Maisbrot, Kaffee und Rhabarberkuchen nach Art des Hauses, und doch konnte ich nicht anders, als mich traumatisiert zu fühlen durch die schnaufende Menschenmenge.
Sieben Jahre danach, im Dezember 2003, der Dauer eines kompletten Zellregenerationszyklus, erhielt der Gouverneur von New Mexico, Bill Richardson, von der zuständigen Stelle die Erlaubnis, den Namen der Route 666 in Route 491 abzuändern. Der Namenswechsel wurde nicht nur in New Mexico vollzogen, sondern auch in den anderen beiden Bundesstaaten, die durch die verfemte, Grimassen ziehende Straße erschlossen werden, Colorado und Utah.
In New Mexico durchquert die Straße auch die Navajo Nation, ein indianisches Schutzgebiet. Die kulturelle Tradition der Navajos findet an der Zahl 666 nichts Anstößiges, deren Führer arbeiteten aber mit Gouverneur Richardson zusammen, weil sie glaubten, dass die Bemühungen um einen Abbau der Armut im Navajogebiet, sei es durch Tourismus oder auswärtige Investoren, wegen der christlichen Auslegung der Zahl behindert würden.
Im vergangenen Juni hatten ein paar Tourismusindustrielle die Idee, auch die A38 umzubenennen. Denn in Göttingen und Halle gibt es Händel-Festspiele, und deshalb soll sie fortan »Händel-Autobahn« heißen. Schönstes tourismusindustrielles Behauptungsvokabular, das aber wahrscheinlich nicht offiziell werden wird, genauso wenig wie die vielen anderen mesmerisierenden Namensvorschläge, die der Autor des vorliegenden Buches während seiner Südharzreise gesammelt hat.
* * *